Ukraine: Chance für Verhandlungen oder nur Bluff?
Auf eine von Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Polen und den USA gestellte Forderung einer sofortigen 30-tägigen Waffenruhe in der Ukraine ist der russische Präsident nicht eingegangen. Putin schlug stattdessen direkte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland vor. Aus Kyjiw antwortete Präsident Selenskyj prompt, er erwarte Putin persönlich am Donnerstag in der Türkei. Europas Presse ordnet ein.
Nun ist der Kreml am Zug
Doschd-Chefredakteur Tichon Dsjadko beschreibt in einem von Echo übernommenen Telegram-Post ein diplomatisches Duell:
„Putin schlägt nächtens Verhandlungen vor und stand in Trumps Augen als Friedensstifter da, aber Selenskyj erhöht den Einsatz: Er sagt, er sei bereit, mit Putin zu verhandeln – schon ist er in Trumps Augen der Friedensstifter. Moskau will das nicht und plant, jemand wie [Ex-Kulturminister] Medinski oder Sluzki [Chef der Systemoppositionspartei LDPR] hinzuschicken, was einem Scheitern der Gespräche gleichkäme. Aber prompt besteht Trump auf Verhandlungen – nun kann Kiew schwer auf Verhandlungen mit Putin persönlich pochen. Doch dann legt Trump nach und sagt, er werde selbst nach Istanbul fliegen – nun kann Moskau keine Clowns schicken. ... Der Kreml ist am Zug.“
Ein unangenehmes Ultimatum
Avvenire ist gespannt:
„Wenn der Kremlchef tatsächlich zu seinem schwierigen Freund Erdoğan fliegt, um dem, wie er es nennt, 'Chef der Kiewer Nazis' gegenüberzusitzen (und man muss das bis zum letzten Moment bezweifeln), dann hat sich nach mehr als drei Jahren heftiger Auseinandersetzungen wirklich etwas geändert. Der russische Präsident mag keine Ultimaten – und Europa, das, vielleicht auch dank des neuen deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz, wieder an Kompaktheit und Entschlossenheit gewonnen hat, hat ihm eines gestellt.“
Lieber handfeste Sanktionen als leere Worte
Eesti Päevaleht fordert eine konsequente Umsetzung der von Starmer, Macron, Merz und Tusk am Samstag angedrohten "massiven Sanktionen":
„Es gibt keine Anzeichen für eine Waffenruhe, die ja auch ein Ja aus Russland benötigt. ... Es ist an der Zeit zu zeigen, dass die Sanktionen, die paketweise gegen Russland verhängt wurden, wobei hart daran gearbeitet wurde, dass es genügend Schlupflöcher und Ausnahmen gibt, auf eine ganz neue Ebene gehoben werden können. ... Der Kreml hat schon genug über uns und unsere Sanktionen gelacht. Die Spielchen müssen endlich aufhören. Es geht nicht nur um den Frieden, sondern auch um die Glaubwürdigkeit des Westens in dem ganzen Prozess – und um das Leben Tausender unschuldiger Ukrainer.“
Schrittweise Rückkehr der Diplomatie
Le Figaro zieht drei Lehren:
„Erstens: Die Diplomatie kommt in Gang – vielleicht nur langsam, aber es ist eine Entwicklung, die es zu unterstützen gilt. Zweitens: Die Europäer kehren ins Spiel zurück – begünstigt durch Trumps Scheitern und seinem Versuch, sich von der Ukraine abzuwenden. Das überträgt ihnen eine große Verantwortung, um Kyjiw zu unterstützen und gleichzeitig wieder ein akzeptabler Gesprächspartner für Moskau zu werden. Drittens: Die amerikanische Kehrtwende ist bemerkenswert, aber sie bleibt in diesem Stadium vor allem taktisch und stellt Trumps strategisches Ziel einer Aussöhnung mit Putin nicht infrage.“
Ein Buhlen um Trumps Gunst
Politologe Wolodymyr Fessenko analysiert auf Facebook:
„Selenskyjs Ansage, er werde am 15. Mai in der Türkei persönlich auf den Kremlchef Wladimir Putin warten, ist die Fortsetzung eines rege betriebenen taktischen Spiels rund um das Thema Friedensgespräche. Es geht nicht um Verhandlungen, sondern um die Bereitschaft zu Verhandlungen. Formal ist es ein Appell an Putin, doch tatsächlich handelt es sich um ein Signal an den Hauptschiedsrichter aus Washington – an US-Präsident Donald Trump. Auch Putins Erklärung mit dem Angebot zu Verhandlungen in Istanbul ist im Grunde ebenfalls für Trump gedacht.“
Russland beharrt auf alten Forderungen
Dagens Nyheter ist pessimistisch:
„Es ist bezeichnend, dass Putin zwar behauptet, er schlage in Istanbul bedingungslose Verhandlungen vor, diese aber in Wirklichkeit an zahlreiche Bedingungen geknüpft sind: Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow sagt, die Gespräche sollten sich an den Verhandlungen orientieren, die im Frühjahr 2022 in Istanbul stattfanden, wo Russland unter anderem die ukrainische Neutralität und strenge Beschränkungen für die ukrainischen Verteidigungskräfte forderte. Moskau verlangt außerdem, dass die 'Ursachen des Krieges' angegangen werden. Damit will der Kreml zum Ausdruck bringen, dass die Nato-Erweiterung die Schuld am russischen Angriffskrieg trägt.“
Putin kaschiert sein Einlenken
Politologe Abbas Galliamow erklärt auf Facebook, warum Moskau Verhandlungen anbietet:
„Manche schreiben jetzt, Putin habe 'den von der Ukraine angebotenen Waffenstillstand abgelehnt'. Wie haben sie sich das denn vorgestellt? Dass Putin sich hinstellt und sagt: 'Ich akzeptiere Selenskyjs Vorschlag?' Kein Politiker würde so etwas tun. In der Politik darf man nicht den Zweitbesten spielen. ... Man muss den Vorschlag des Gegners ignorieren und einen eigenen – leicht abgewandelten – Vorschlag vorlegen, der originell aussieht und nicht wie eine Kopie des gegnerischen Vorschlags. Das sind Grundregeln der öffentlichen Politik, und Putin kennt sie. Dennoch musste Russlands Präsident faktisch dem Vorschlag von Selenskyj zustimmen. Denn der wurde von Trump unterstützt.“
Nicht nur an die kommenden Monate denken
Auf langfristiges Denken pocht Naftemporiki:
„Die europäischen Politiker müssen an der Ausarbeitung eines kohärenten Plans für einen dauerhaften Frieden in Europa arbeiten, der nicht nur die Zukunft der Ukraine, sondern auch die Sicherheit des gesamten Alten Kontinents sowie die Stellung Russlands beeinflussen wird. Denn wenn der Friedensprozess irgendwann abgeschlossen ist, zum Guten oder zum Schlechten, wird Russland geografisch immer noch dort sein, wo es heute ist. Dasselbe gilt für Europa.“