Ukraine: Chance für Verhandlungen oder nur Bluff?
Auf die europäisch-amerikanische Forderung nach einer sofortigen 30-tägigen Waffenruhe hatte Wladimir Putin am Sonntag mit einem Vorschlag für direkte Verhandlungen mit der Ukraine in Istanbul reagiert. Deren Präsident Selenskyj antwortete prompt, er werde dort persönlich auf Putin warten. Laut Washington Post wird dieser nicht anreisen, eine offizielle Stellungnahme des Kremls steht weiter aus.
Den Westen wieder zusammengeschweißt
Auch wenn Putin nicht teilnimmt, hat die Sache ihr Gutes, schreibt La Stampa:
„Er wird von drei Seiten unter Druck gesetzt, die Einladung anzunehmen: von den europäischen Staats- und Regierungschefs, von Wolodymyr Selenskyj und von Donald Trump. Durch diese Einigkeit steht der russische Präsident mit dem Rücken zur Wand. Er hat allerdings kein Problem damit, jedem Nein zu sagen. Das hat er mit seinem Krieg bewiesen. Aber indem er nicht nach Istanbul reist, schweißt er die Front zwischen Washington, der Ukraine und Europa wieder zusammen, in die er einen doppelten Keil zwischen den USA und der Ukraine sowie zwischen Washington und Europa geschlagen zu haben glaubte. Zudem hat er die Maske fallen lassen, was den Willen zur Beendigung des Kriegs betrifft. Was keine große Neuigkeit ist.“
Militärisch alles andere als Friedenszeichen
Vor einer größeren russischen Offensive warnt der Ex-Abgeordnete und Blogger Boryslaw Beresa in einem von gazeta.ua übernommenen Facebook-Post:
„An der Front glaubt niemand an irgendwelche Verhandlungen in Istanbul oder an Versprechungen, dass es eine Waffenruhe geben werde. Die Besatzer haben die Aufstellung von 15 Divisionen abgeschlossen und sie beabsichtigen nicht etwa, Herbarien zu sammeln, sondern sie wollen im Sommer und Herbst eine Großoffensive durchführen. Das ist wohl die beste Antwort auf die Frage, ob man von dem Treffen am 15. Mai in Istanbul etwas erwarten darf.“
Zwei gegen einen – und der wäre Selenskyj
Soziologe Igor Eidman sieht eine Option, wie Moskau den Spieß umdrehen könnte:
„Putin könnte beschließen, mit Selenskyj nur im Beisein des US-Präsidenten zu verhandeln, falls er sich [zuvor] mit diesem absprechen kann – also zwei gegen einen. Dies könnte zu einem weiteren Skandal und der Einstellung der US-Hilfe für die Ukraine führen. Sollte der Kreml plötzlich einen Besuch Putins in Istanbul zu Gesprächen mit Trump ankündigen (so würde es in Russland offiziell dargestellt, Selenskyj nimmt man dann sozusagen dazu), dann heißt das, man hat sich darauf geeinigt, den ukrainischen Führer gemeinsam in die Mangel zu nehmen. Die Möglichkeit dafür ist angesichts der schon länger bestehenden inoffiziellen Direktkontakte zwischen Trump und Putin durchaus gegeben.“
Auf einzelne Forderungen könnte Kyjw eingehen
Der Ukraine-Korrespondent der taz, Bernhard Clasen, begrüßt, dass die ukrainische Regierung bereit ist, nach Istanbul zu reisen:
„[S]ie ist damit in mehrerlei Hinsicht über ihren eigenen Schatten gesprungen. Nun gibt es russische Forderungen, auf die die Ukraine nicht eingehen kann: Sie kann nicht, wie von Russland gefordert, einfach Städte wie beispielsweise Saporischschja den Russen schenken. Die Forderung Russlands hingegen, die Diskriminierung der russischen Sprache in der Ukraine zu beenden, verdient durchaus Beachtung. Es kann nicht sein, dass, wie im April in Kyjiw geschehen, Teenager zum Inlandsgeheimdienst SBU vorgeladen werden, nur weil sie auf der Straße russischsprachige Musik gehört haben.“
Nun ist der Kreml am Zug
Doschd-Chefredakteur Tichon Dsjadko beschreibt in einem von Echo übernommenen Telegram-Post ein diplomatisches Duell:
„Putin schlägt nächtens Verhandlungen vor und stand in Trumps Augen als Friedensstifter da, aber Selenskyj erhöht den Einsatz: Er sagt, er sei bereit, mit Putin zu verhandeln – schon ist er in Trumps Augen der Friedensstifter. Moskau will das nicht und plant, jemand wie [Ex-Kulturminister] Medinski oder Sluzki [Chef der Systemoppositionspartei LDPR] hinzuschicken, was einem Scheitern der Gespräche gleichkäme. Aber prompt besteht Trump auf Verhandlungen – nun kann Kiew schwer auf Verhandlungen mit Putin persönlich pochen. Doch dann legt Trump nach und sagt, er werde selbst nach Istanbul fliegen – nun kann Moskau keine Clowns schicken. ... Der Kreml ist am Zug.“
Ein unangenehmes Ultimatum
Avvenire ist gespannt:
„Wenn der Kremlchef tatsächlich zu seinem schwierigen Freund Erdoğan fliegt, um dem, wie er es nennt, 'Chef der Kiewer Nazis' gegenüberzusitzen (und man muss das bis zum letzten Moment bezweifeln), dann hat sich nach mehr als drei Jahren heftiger Auseinandersetzungen wirklich etwas geändert. Der russische Präsident mag keine Ultimaten – und Europa, das, vielleicht auch dank des neuen deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz, wieder an Kompaktheit und Entschlossenheit gewonnen hat, hat ihm eines gestellt.“
Lieber handfeste Sanktionen als leere Worte
Eesti Päevaleht fordert eine konsequente Umsetzung der von Starmer, Macron, Merz und Tusk am Samstag angedrohten "massiven Sanktionen":
„Es gibt keine Anzeichen für eine Waffenruhe, die ja auch ein Ja aus Russland benötigt. ... Es ist an der Zeit zu zeigen, dass die Sanktionen, die paketweise gegen Russland verhängt wurden, wobei hart daran gearbeitet wurde, dass es genügend Schlupflöcher und Ausnahmen gibt, auf eine ganz neue Ebene gehoben werden können. ... Der Kreml hat schon genug über uns und unsere Sanktionen gelacht. Die Spielchen müssen endlich aufhören. Es geht nicht nur um den Frieden, sondern auch um die Glaubwürdigkeit des Westens in dem ganzen Prozess – und um das Leben Tausender unschuldiger Ukrainer.“
Schrittweise Rückkehr der Diplomatie
Le Figaro zieht drei Lehren:
„Erstens: Die Diplomatie kommt in Gang – vielleicht nur langsam, aber es ist eine Entwicklung, die es zu unterstützen gilt. Zweitens: Die Europäer kehren ins Spiel zurück – begünstigt durch Trumps Scheitern und seinem Versuch, sich von der Ukraine abzuwenden. Das überträgt ihnen eine große Verantwortung, um Kyjiw zu unterstützen und gleichzeitig wieder ein akzeptabler Gesprächspartner für Moskau zu werden. Drittens: Die amerikanische Kehrtwende ist bemerkenswert, aber sie bleibt in diesem Stadium vor allem taktisch und stellt Trumps strategisches Ziel einer Aussöhnung mit Putin nicht infrage.“
Ein Buhlen um Trumps Gunst
Politologe Wolodymyr Fessenko analysiert auf Facebook:
„Selenskyjs Ansage, er werde am 15. Mai in der Türkei persönlich auf den Kremlchef Wladimir Putin warten, ist die Fortsetzung eines rege betriebenen taktischen Spiels rund um das Thema Friedensgespräche. Es geht nicht um Verhandlungen, sondern um die Bereitschaft zu Verhandlungen. Formal ist es ein Appell an Putin, doch tatsächlich handelt es sich um ein Signal an den Hauptschiedsrichter aus Washington – an US-Präsident Donald Trump. Auch Putins Erklärung mit dem Angebot zu Verhandlungen in Istanbul ist im Grunde ebenfalls für Trump gedacht.“
Russland beharrt auf alten Forderungen
Dagens Nyheter ist pessimistisch:
„Es ist bezeichnend, dass Putin zwar behauptet, er schlage in Istanbul bedingungslose Verhandlungen vor, diese aber in Wirklichkeit an zahlreiche Bedingungen geknüpft sind: Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow sagt, die Gespräche sollten sich an den Verhandlungen orientieren, die im Frühjahr 2022 in Istanbul stattfanden, wo Russland unter anderem die ukrainische Neutralität und strenge Beschränkungen für die ukrainischen Verteidigungskräfte forderte. Moskau verlangt außerdem, dass die 'Ursachen des Krieges' angegangen werden. Damit will der Kreml zum Ausdruck bringen, dass die Nato-Erweiterung die Schuld am russischen Angriffskrieg trägt.“
Putin kaschiert sein Einlenken
Politologe Abbas Galliamow erklärt auf Facebook, warum Moskau Verhandlungen anbietet:
„Manche schreiben jetzt, Putin habe 'den von der Ukraine angebotenen Waffenstillstand abgelehnt'. Wie haben sie sich das denn vorgestellt? Dass Putin sich hinstellt und sagt: 'Ich akzeptiere Selenskyjs Vorschlag?' Kein Politiker würde so etwas tun. In der Politik darf man nicht den Zweitbesten spielen. ... Man muss den Vorschlag des Gegners ignorieren und einen eigenen – leicht abgewandelten – Vorschlag vorlegen, der originell aussieht und nicht wie eine Kopie des gegnerischen Vorschlags. Das sind Grundregeln der öffentlichen Politik, und Putin kennt sie. Dennoch musste Russlands Präsident faktisch dem Vorschlag von Selenskyj zustimmen. Denn der wurde von Trump unterstützt.“
Nicht nur an die kommenden Monate denken
Auf langfristiges Denken pocht Naftemporiki:
„Die europäischen Politiker müssen an der Ausarbeitung eines kohärenten Plans für einen dauerhaften Frieden in Europa arbeiten, der nicht nur die Zukunft der Ukraine, sondern auch die Sicherheit des gesamten Alten Kontinents sowie die Stellung Russlands beeinflussen wird. Denn wenn der Friedensprozess irgendwann abgeschlossen ist, zum Guten oder zum Schlechten, wird Russland geografisch immer noch dort sein, wo es heute ist. Dasselbe gilt für Europa.“