Hunger in Gaza: Tut der Westen genug?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat vor einer Hungerkrise im Gazastreifen gewarnt. Ausbleibende Hilfslieferungen sowie Gewalt und Chaos bei der Ausgabe von Lebensmitteln führen demnach zu immer mehr Todesfällen. Dies wird auch in der am Montag veröffentlichten Erklärung von mittlerweile 30 Staaten, die Israel zu einem zur sofortigen Beendigung des Krieges auffordert, scharf kritisiert. Kommentatoren diskutieren, ob es in dieser Lage mehr als Appelle an Israel braucht.

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Der Spiegel (DE) /

Berlin muss Waffenexporte stoppen

Der Spiegel fordert eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Israel-Politik:

„Wer aus der deutschen Geschichte ableitet, Deutschland müsse an Israels Seite stehen, selbst dann, wenn es schwere Verbrechen begeht, der pervertiert diese Verantwortung. ... Die Bundesregierung sollte die Waffenexporte suspendieren, solange der Krieg nicht beendet wird. ... Die Bundesregierung sollte bis auf Weiteres auch dem Reigen an Staatsbesuchen, Umarmungen und symbolischen Treuebekundungen mit Israel ein Ende setzen, bei denen so getan wird, als wäre alles wie immer. Und sie muss den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen – auch dann, wenn er gegen israelische Regierungsmitglieder vorgeht. Dieser Krieg muss endlich enden.“

The Economist (GB) /

Trump hätte es in der Hand

Wirklichen Einfluss hätte ein Machtwort aus Washington, erinnert The Economist:

„Meist war es Druck des Weißen Hauses, der zur Beendigung der Kriege Israels seit dessen Unabhängigkeit 1948 geführt hat. Dass die USA Israel im aktuellen Konflikt so viel Handlungsspielraum ließen, hat gezeigt, dass Amerika immer noch eine entscheidende Rolle spielt. Trumps wütende Intervention im Juni beendete den Krieg zwischen Israel und dem Iran. Er muss seine Wut und seine Macht unverzüglich zum Wohle Gazas einsetzen.“

La Repubblica (IT) /

Historischer Schritt Frankreichs

La Repubblica kommentiert Emmanuel Macrons Ankündigung, Frankreich werde Palästina im September als Staat anerkennen:

„Emmanuel Macron unternimmt einen historischen Schritt. … Macron bekräftigt die Dringlichkeit eines Waffenstillstands im Gazastreifen, den Gewaltverzicht der terroristischen Gruppen, insbesondere der Hamas, und die Notwendigkeit, einen palästinensischen Staat zu errichten, 'der entmilitarisiert ist und Israel vollständig anerkennt, damit er zur Sicherheit aller im Nahen Osten beitragen kann'. Frankreich reiht sich in die Liste der über 140 Länder ein, die Palästina bereits anerkannt haben, ist aber das erste Land der G7, das diesen Schritt unternimmt.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Wie Europas Presse versagt hat

Auch die falsche Zurückhaltung vieler Medien hat für El Periódico de Catalunya Mitschuld daran, dass die Lage so desolat werden konnte:

„Der Aufschrei der Kritik ist gut und richtig. Aber er kommt zu spät. … So spät, dass es schwerfällt, darin keine Mittäterschaft zu erkennen. … Das falsche Verlangen nach Objektivität hat dazu geführt, dass viele Medien in Europa bei diesem Krieg einen Maßstab anlegten, der Lichtjahre von anderen Konflikten, etwa dem in der Ukraine, entfernt ist. In Gaza nennt die europäische Presse die Dinge nicht beim Namen. Bis die Beweise so brutal sind, dass sie nicht mehr anders kann.“

In (GR) /

Ohne Druck kein Frieden

Es braucht mehr als Appelle an Israel, ist das Webportal In überzeugt:

„Es ist offensichtlich, dass Israel seine Gewalttaten nicht einstellen wird, solange es keinem wirklichen Druck ausgesetzt ist, solange es weiterhin als Verbündeter, Gesprächspartner, Handelspartner, Investor und natürlich Empfänger militärischer Unterstützung behandelt wird – zumindest solange, wie die rechtsextreme Regierung Netanjahus an der Macht ist. Schlimmer noch: Die Stimmen in Israel, die hier und jetzt eine ethnische Säuberung fordern, werden noch lauter werden. Aus diesem Grund ist es an der Zeit, klar zu machen, dass es ohne echten Druck keinen Frieden geben kann und sich die Lage weiter verschlechtern wird.“

Le Monde (FR) /

Waffenembargo gegen Israel

In Le Monde wirft eine Gruppe von Juristen Israel den gezielten Einsatz von Hunger vor:

„Als Experten für humanitäres Völkerrecht verurteilen wir den Einsatz von Hunger als Kriegswaffe, die Veruntreuung von Hilfsleistungen mit dem Ziel ethnischer Säuberungen sowie die genozidäre Politik gegen die Palästinenser im Gazastreifen. ... Frankreich und die Europäische Union müssen diejenigen bestrafen, die Hunger gezielt organisieren, indem sie den Zugang zu humanitärer Hilfe behindern, und ein vollständiges Waffenembargo gegen Israel verhängen. Zudem muss der Internationale Strafgerichtshof seine Ermittlungen zu diesen Praktiken vertiefen und die Verfolgung der Verantwortlichen dieser organisierten Hungernot wegen Genozids ins Auge fassen.“

NRC (NL) /

Der ohnmächtigen Wut eine Stimme geben

NRC konstatiert, dass in den Niederlanden angesichts der Untätigkeit der eigenen Regierung die Frustration über das Drama in Nahost wächst:

„Selten war der Mangel an Menschlichkeit so sichtbar wie beim Thema Gaza. Das Gefühl der Ohnmacht ist allgegenwärtig. Die überwiegende Mehrheit der niederländischen Bürger will, dass die Gewalt aufhört, sieht aber, dass sie nur noch schlimmer wird. ... Es geht nicht nur um Einflussnahme, sondern auch darum, der zunehmenden ohnmächtigen Wut eine Stimme zu geben. Gaza ist der moralische Maßstab von heute, das Vietnam unserer Zeit. Er muss in der niederländischen Politik Widerhall finden.“

Irish Examiner (IE) /

Hinter so viel Zerstörung steckt Absicht

Israel geht im Gaza-Streifen offensichtlich nicht nur gegen die Hamas vor, empört sich Irish Examiner:

„Schätzungsweise 90 Prozent der Gebäude in Gaza wurden zerstört oder beschädigt. Die meisten der mehr als zwei Millionen Einwohner wurden vertrieben. Hinter einem solchen Ausmaß an mutwilliger Zerstörung muss eine bewusste Politik stecken. Das Ausmaß ist so katastrophal, dass es unglaubwürdig ist, wenn behauptet wird, die Angriffsziele seien stets Hamas-Milizen, Tunnel oder versteckte Waffenlager. Israels Politiker und Militärs beteuern zwar immer wieder, die Zivilbevölkerung zu schützen. Doch das klingt deprimierend hohl, wenn man bedenkt, dass es vor allem Zivilisten sind, die in sehr großer Zahl sterben.“

The Daily Telegraph (GB) /

Das Problem ist und bleibt die Hamas

Israel darf nicht zum Schuldigen gestempelt werden, mahnt The Daily Telegraph:

„Wenn Großbritannien und die übrigen Unterzeichner ernsthaft einen 'bedingungslosen und dauerhaften Waffenstillstand' in Gaza anstreben, wie es in der Erklärung heißt, dann sollten sie ihre Bemühungen auf Folgendes konzentrieren: Die Hamas und ihre Unterstützer im Iran dazu zwingen, das Unvermeidliche anzuerkennen und zu akzeptieren, dass die anhaltende Präsenz der Terrororganisation in Gaza beendet werden muss. ... Wenn die Hamas auch nur den geringsten Einfluss in dem Gebiet behält, würde das israelische Volk der Gefahr eines weiteren verheerenden Terroranschlags ausgesetzt sein. Deshalb beharrt Premier Netanjahu darauf, dass es in Gaza keinen Frieden geben könne, solange die Hamas dort bleibt.“

Kronen Zeitung (AT) /

Terroristen verdienen keinen Rückhalt

Die Kronen Zeitung kritisiert Außenministerin Beate Meinl-Reisinger dafür, dass sie die Erklärung unterschrieben hat:

„Das kommt (wenn wohl auch ungewollt) einer Rückendeckung für die Terrororganisation Hamas gleich, die bisher zu keinem Waffenstillstand bereit zu sein scheint. Es kommt nicht von ungefähr, dass Deutschland sowie die Außenbeauftragte der EU [Kaja Kallas] diese Erklärung nicht unterzeichnet haben. Und dass Bundeskanzler [Christian] Stocker dazu schweigt ...“

La Vanguardia (ES) /

Klägliche Haltung der EU

In La Vanguardia kritisiert Chefredakteur Jordi Juan die Untätigkeit des Westens:

„Es ist wirklich ermüdend, immer wieder daran erinnern zu müssen, dass die Hamas zwar ein schreckliches Massaker begangen hat, dieser Terroranschlag aber kein Alibi für die Vernichtungskampagne des palästinensischen Volkes sein kann. … Dass es eine Schande ist, dass Menschen getötet werden, während sie auf Essen warten und dass Lebensmittel rationiert werden, um Hunger zur Kriegswaffe zu machen. Und vor allem, dass der Westen unfähig ist, diesen Krieg zu beenden. … Von Donald Trump ist wenig zu erwarten, aber auch die Haltung der EU ist ziemlich kläglich.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Der Kern des Konflikts muss benannt werden

Die Forderung an Israel wäre überzeugender, wenn auch die Hamas ausdrücklich kritisiert würde, so die Frankfurter Rundschau:

„Dann könnte die israelische Regierung eine solche Initiative nicht einfach mit dem Hinweis abtun, die Verantwortlichen des Vorstoßes hätten die Bedrohung Israels nicht verstanden. ... Womöglich wären dann mehr als eine Minderheit in Israel bereit, das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser zu sehen und in einem nächsten Schritt die eigene Regierung zu einem Ende des Krieges und damit zu einem Ende des höllischen Tuns in Gaza zu drängen. Wer den Kern des Konflikts aus den Augen verliert, läuft Gefahr, die ermüdende Spirale der Argumente anzuschieben. Oder hat bereits die Ausweglosigkeit des Konflikts hingenommen.“

Star (TR) /

Islamische Welt darf nicht zuschauen

Star sieht die Verantwortung für das Leid in Gaza nicht nur in der westlichen Welt:

„Im Gazastreifen tötet das von den USA unterstützte Israel einerseits täglich Dutzende Palästinenser auf grausame Weise, andererseits setzt es Hunger systematisch als Waffe gegen zwei Millionen Menschen ein. ... Und die zwei Milliarden Menschen zählende islamische Welt sieht tatenlos zu. ... Die aktuelle Situation ist nicht auf fehlende Mittel oder mangelnde Spenden zurückzuführen. Tausende Tonnen Lebensmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter warten außerhalb der Grenze. ... Nicht aufgrund von Mangel, sondern aufgrund der Blockade durch Israel und der Untätigkeit der islamischen Regierungen.“

De Telegraaf (NL) /

Die Hamas ist am Zug

Der Aufruf ist zu einseitig, meint De Telegraaf:

„Der Krieg kann enden, wenn Hamas sich ergibt und die Geiseln freilässt. Seit letzter Woche liegt ein Vorschlag für einen Waffenstillstand auf dem Tisch, der auch zu einem besseren System der Hilfslieferungen in Gaza führen muss. Israel hat die notwendigen Zugeständnisse gemacht und den Vorschlag angenommen. Jetzt ist die Hamas am Zug. Die Erklärung der 28 Länder kommt zu einem heiklen Zeitpunkt in den Verhandlungen, denn eine Reaktion der Hamas blieb aus. Doch jetzt haben die Terroristen die Erklärung schnell begrüßt. Solange der einseitige Druck auf Israel erhöht wird, ist Hamas zufrieden.“

El País (ES) /

Appell könnte Wirkung zeigen

Immerhin einen Funken Hoffnung auf Frieden schöpft El País:

„Es ist Benjamin Netanjahus bedeutendster diplomatischer Rückschlag bisher. ... In ihrer harten Forderung verurteilen die Unterzeichner besonders das, was sie 'die tröpfchenweise Hilfe und das unmenschliche Sterben' nennen. ... Bis jetzt hat Netanjahu seine Politik der totalen Zerstörung nicht im Geringsten geändert. Im Gegenteil, der Likud-Führer hat vor internationalen Justizbehörden die Straflosigkeit zur Schau gestellt. Er ist der Überzeugung, dass nichts an der privilegierten Beziehung Israels zu den entwickelten Ländern etwas ändern würde. Es wird sich zeigen, ob der jüngste Vorstoß einiger von ihnen die Geschichte fruchtloser guter Worte verlängert oder schließlich dazu beiträgt, das Töten von Unschuldigen zu stoppen.“

Corriere del Ticino (CH) /

Der Ton ist unmissverständlich

Es bewegt sich etwas, meint auch Corriere del Ticino:

„Leider befinden wir uns immer noch in der Sphäre der Appelle und kommen nicht weiter. Zumindest aber ist der Ton der 25 Außenminister von den ersten Worten an unmissverständlich: 'Der Krieg in Gaza muss jetzt beendet werden.' ... Wir haben die Abwesenheit Deutschlands erwähnt. Es sei hinzugefügt, dass Bundeskanzler Friedrich Merz gestern das Wort ergriff und darauf hinwies, dass die Aktionen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza gegen humanitäre Normen verstoßen, aber auch daran erinnerte, wie wichtig es ist, 'die Türen für den Dialog offen zu halten'.“

Corriere della Sera (IT) /

Eindeutige Verantwortung Israels

Corriere della Sera findet den Aufruf ohne Wenn und Aber berechtigt:

„Es sind nicht nur die unverhältnismäßig hohen Opferzahlen in Gaza oder die unmenschlichen Methoden, mit denen hungernde Menschen auf der Suche nach Nahrung behandelt werden, die den Westen dazu bringen, Netanjahus Krieg nicht mehr zu tolerieren. ... Es ist zwar wichtig, aber nicht entscheidend, ob Menschen, die in der Schlange für Brot stehen, absichtlich oder versehentlich erschossen werden, oder ob es gar nicht israelische Soldaten sind, die schießen. Denn das Land ist in jedem Fall besetzt und wird von den israelischen Streitkräften kontrolliert, und ein unabhängiger Zugang zu den Medien wird verhindert; deshalb ist alles, was dort geschieht, die Unordnung, die dort herrscht, heute in jedem Fall die politische Verantwortung Israels.“

De Morgen (BE) /

Was die EU konkret tun kann

Die EU sollte jetzt vor Ort aktiv werden, fordert De Morgen:

„[EU-Kommissarin für Krisenmanagement Hadja] Lahbib und die EU-Spitzendiplomatin Kaja Kallas könnten vorschlagen, eine humanitäre europäische Mission zu entsenden. ... Die EU unterhält bereits zwei Missionen in den palästinensischen Gebieten, die als Sprungbrett für eine solche Mission dienen könnten. ... Nichts hindert die Kommission daran, vorzuschlagen, die [EU-Mission] EUBAM zu einer vollwertigen humanitären Eingreiftruppe auszubauen. Man könnte ihr auch eine Polizeitruppe zur Seite stellen, mit beispielsweise neutralen europäischen und jordanischen Beamten.“