Die Welt ordnet sich neu: Wo bleibt Europa?
Trump versucht, bilateral mit Putin handelseinig zu werden, China schart aktiv Alliierte aus aller Welt um sich. Kategorien wie Ost, West, der "globale Süden" oder "demokratische Werte" verlieren zunehmend an Trennschärfe. Europas Medien diskutieren: Soll sich Europa in dieser Umwälzung anderen anschließen – oder lieber sein eigenes Profil stärken? Und hat es überhaupt das Zeug dazu?
Im Kontrast sich selbst erkennen
Das Handeln der Großmächte befördert das Erwachen einer europäischen Identität, schreibt der Kommunikationswissenschaftler Dejan Verčič in Večer:
„Das Motto der führenden Staaten lautet: Amerika zuerst, Russland zuerst, China zuerst. ... Im Moment sieht es so aus, als würde der 'Frieden für unsere Zeit' mit einem großen Stück Ukraine auf dem Silbertablett erkauft werden. Morgen kann es jemand anderes treffen. Auch uns. Doch nicht nur Putin hat das ukrainische Nationalbewusstsein gestärkt. Trump tut dasselbe für die EU und ihre Identität. Noch nie wussten wir Europäer so klar, wer wir sind. ... Jetzt, wo wir erkannt haben, dass es eine europäische Identität gibt – dass wir besonders sind und uns von Amerikanern und Russen unterscheiden –, ist es an der Zeit, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen.“
Sündenbock Brüssel
Europa wird abgehängt, aber daran sind eher die einzelnen Länder schuld und nicht die EU, schimpft Corriere della Sera:
„Allzu oft wurden die mehr oder weniger offensichtlichen Unfähigkeiten Brüssels zu einem Alibi für die Regierungen, nichts zu tun; manchmal, und das ist noch schlimmer, haben sie ihre eigene Trägheit und ihre eigenen Unzulänglichkeiten auf die Union abgewälzt. Ein Beispiel: Ist es Europa, dessen Investitionen in Künstliche Intelligenz weniger als zehn Prozent der US-amerikanischen betragen – oder sind es die einzelnen Regierungen, die es nicht schaffen, Allianzen zu bilden und das Ausgabenniveau anzuheben? Auch die Überregulierung, unter der die EU zweifellos leidet und die sie so schnell wie möglich beheben sollte, riecht nach einer Ausrede. Dies kann jedoch nicht die Untätigkeit in Sektoren rechtfertigen, in denen solche Regeln de facto nicht existieren, beispielsweise im Verteidigungsbereich.“
Einen dritten Weg wählen
Europa muss unabhängig von den USA und China seinen eigenen Kurs finden, meint Chefredakteur Jordi Juan in La Vanguardia:
„Wir Bürger im Westen dachten immer, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. ... Mit einer gewissen Überheblichkeit wollten wir Demokratie exportieren, manchmal nicht gerade erfolgreich, wie der Kolonialismus beweist. ... Chinas geschickte Diplomatie führte zur Entstehung der Brics als Alternative zur westlichen Hegemonie. ... Es musste nur Donald Trump auftauchen, um diese antiwestliche Front zu festigen. ... Vielleicht sollte Europa einen dritten Weg wählen und sich von den USA distanzieren, ohne China oder Russland in die Arme zu fallen. Xi unterstützt Putin und das bestätigt, dass auch China nicht auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Pekings Modell sollte also nicht die Alternative sein.“