Neue Weltordnung: Und Europa?

Beim SOZ-Gipfel in Tianjin und der Militärparade in Peking hat China versucht, sich als aufstrebende Weltmacht mit starken Verbündeten zu präsentieren. Während im Westen die Beziehungen mit den USA angespannt sind, steht Europa zunehmend vor der Herausforderung, sich selbst zu behaupten. Neben großen Gefahren für den Kontinent bewerten Kommentatoren auch die Chance, künftig auf eigenen Füßen zu stehen.

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Le Figaro (FR) /

Gefahr aus China erkannt

Für Europa ist die Entwicklung Chinas bedenklich, warnt Le Figaro:

„Der asiatische Riese präsentiert sich als stabile und rationale Macht gegenüber Trumps Chaos. Doch Europa hat aus Fehlern gelernt und weiß nun, was gemeint ist, wenn Xi Jinping Chinas 'unaufhaltsame Renaissance' lobt: eine Strategie wirtschaftlicher Ausbeutung, die auf kritische Sektoren (Häfen, 5G-Netze, Seltene Erden) abzielt, um die Demokratien in Abhängigkeit zu halten. Innerhalb von zehn Jahren hat die EU ihr Handelsdefizit gegenüber Peking sich verdoppeln lassen. Nachdem sie gegenüber Trump gekuscht hat, wird Xi kaum glauben, dass sie ihm Paroli bieten kann.“

Der Spiegel (DE) /

Xi und Putin haben das attraktivere Narrativ

Der Westen ist nicht mehr das Vorbild, betont der China-Korrespondent des Spiegels, Georg Fahrion:

„Arabische und asiatische Mittelschichten erkennen in Europa ein pittoreskes Urlaubsziel, aber sicher nicht das Maß aller Dinge. In Afrika und Lateinamerika können sie es nicht mehr hören, wenn der Westen von Menschenrechten redet, während an seinen Grenzen Migranten umkommen. Die Welt ist genervt davon, dass Europäer und Nordamerikaner sich im 21. Jahrhundert immer noch für irgendwie zivilisatorisch überlegen halten, auf einer Vorrangstellung beharrend wie auf einem Erbhof, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Gewichte verschoben haben. ... Peking und Moskau haben derzeit einfach die attraktivere Erzählung anzubieten: Willkommen in unserer neuen Welt, in der wir uns als Gleiche begegnen und einander nicht reinreden.“

Irish Independent (IE) /

Der Westen könnte auch ohne Trump

Vom geopolitischen Abstieg der USA sollte nicht nur China profitieren, meint Irish Independent:

„Neun der 25 weltgrößten Volkswirtschaften sind in der EU. Wenn man Großbritannien und die Schweiz hinzufügt, sind das elf europäische Staaten. Rechnet man dann noch Kanada, Japan und Taiwan dazu, sind die prowestlichen Länder weltweit in einer dominierenden Position. ... Europa kann Donald Trump überleben. Und so wie Peking im Vergleich zu Washington global an Geltung gewonnen hat, kann auch Europa seine Bedeutung erhöhen. Der Abstieg der USA sollte nicht nur China zum Vorteil gereichen.“

Expresso (PT) /

An die liberale Demokratie glauben

Nach der Machtdemonstration in China ermutigt Expresso Europa dazu, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen:

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass China versucht, Freunde zu gewinnen, dass es die USA nicht sonderlich stört, ihre alten Freunde zu verlieren, und dass es Europa schwerfällt, neue Freunde hinzuzugewinnen. ... Europa ist die Heimat der liberalen Demokratie. Es ist wichtig, dass wir an ihre Vorzüge glauben, wenn wir die Alternativen bekämpfen wollen, die einerseits rund um China, andererseits als Antwort auf die Machtdemonstration Amerikas entstehen.“

La Repubblica (IT) /

Auf der Suche nach Führungskraft

Inwieweit sich Europa gegen seine Feinde behaupten kann, fragt sich La Repubblica:

„Sicher, es gibt noch die Nato. ... Aber kann man wirklich glauben, dass die notdürftig zusammengeflickte Union in der Lage ist, die Russen in Schach zu halten, wenn Amerika nicht oder nicht ausreichend präsent ist? Im Moment scheint das eine Illusion zu sein. Macron scheint daran zu glauben. ... Aber es gibt vor allem innenpolitische Gründe, die die Dynamik des Präsidenten erklären, der an der Spitze eines Frankreichs steht, das zu fragil ist, um eine Führungsrolle glaubwürdig auszuüben. Der Deutsche Merz, der alles andere als feige ist, glaubt viel weniger daran. Der Kanzler will keinen Fehler machen: Mit den Extremisten der AfD im Nacken kann er sich das nicht leisten.“

Večer (SI) /

Im Kontrast sich selbst erkennen

Das Handeln der Großmächte befördert das Erwachen einer europäischen Identität, schreibt der Kommunikationswissenschaftler Dejan Verčič in Večer:

„Das Motto der führenden Staaten lautet: Amerika zuerst, Russland zuerst, China zuerst. ... Im Moment sieht es so aus, als würde der 'Frieden für unsere Zeit' mit einem großen Stück Ukraine auf dem Silbertablett erkauft werden. Morgen kann es jemand anderes treffen. Auch uns. Doch nicht nur Putin hat das ukrainische Nationalbewusstsein gestärkt. Trump tut dasselbe für die EU und ihre Identität. Noch nie wussten wir Europäer so klar, wer wir sind. ... Jetzt, wo wir erkannt haben, dass es eine europäische Identität gibt – dass wir besonders sind und uns von Amerikanern und Russen unterscheiden –, ist es an der Zeit, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen.“

Corriere della Sera (IT) /

Sündenbock Brüssel

Europa wird abgehängt, aber daran sind eher die einzelnen Länder schuld und nicht die EU, schimpft Corriere della Sera:

„Allzu oft wurden die mehr oder weniger offensichtlichen Unfähigkeiten Brüssels zu einem Alibi für die Regierungen, nichts zu tun; manchmal, und das ist noch schlimmer, haben sie ihre eigene Trägheit und ihre eigenen Unzulänglichkeiten auf die Union abgewälzt. Ein Beispiel: Ist es Europa, dessen Investitionen in Künstliche Intelligenz weniger als zehn Prozent der US-amerikanischen betragen – oder sind es die einzelnen Regierungen, die es nicht schaffen, Allianzen zu bilden und das Ausgabenniveau anzuheben? Auch die Überregulierung, unter der die EU zweifellos leidet und die sie so schnell wie möglich beheben sollte, riecht nach einer Ausrede. Dies kann jedoch nicht die Untätigkeit in Sektoren rechtfertigen, in denen solche Regeln de facto nicht existieren, beispielsweise im Verteidigungsbereich.“

La Vanguardia (ES) /

Einen dritten Weg wählen

Europa muss unabhängig von den USA und China seinen eigenen Kurs finden, meint Chefredakteur Jordi Juan in La Vanguardia:

„Wir Bürger im Westen dachten immer, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. ... Mit einer gewissen Überheblichkeit wollten wir Demokratie exportieren, manchmal nicht gerade erfolgreich, wie der Kolonialismus beweist. ... Chinas geschickte Diplomatie führte zur Entstehung der Brics als Alternative zur westlichen Hegemonie. ... Es musste nur Donald Trump auftauchen, um diese antiwestliche Front zu festigen. ... Vielleicht sollte Europa einen dritten Weg wählen und sich von den USA distanzieren, ohne China oder Russland in die Arme zu fallen. Xi unterstützt Putin und das bestätigt, dass auch China nicht auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Pekings Modell sollte also nicht die Alternative sein.“