Was die Wahl für Europa bedeutet

Nach der Bundestagswahl haben mehrere ausländische Staats- und Regierungschefs Kanzlerin Merkel zum Sieg der Konservativen gratuliert und den Wunsch zur Zusammenarbeit betont. Doch Kommentatoren sorgen sich angesichts der neuen innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland um die Stabilität in Europa.

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De Volkskrant (NL) /

Berlin hat eine Sonderrolle

Die Veränderung des Parteiensystems in Deutschland wird auch andernorts Auswirkungen haben, kommentiert De Volkskrant das Wahlergebnis:

„Die Krise der Volksparteien und der Vormarsch radikaler Parteien, die schnelle Lösungen für komplexe Probleme versprechen, bedeutet eine Normalisierung der deutschen Politik - 70 Jahre nach der Stunde Null. ... Doch Deutschland ist nicht normal. Seine politische Identität beruhte auf einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit und dem breit getragenen Wunsch, das deutsche Gewicht für die europäische Politik einzusetzen. Die rechtsextremen Äußerungen, die die AfD nicht immer unterdrücken kann, sind daher nicht nur unangenehm sondern äußerst beunruhigend. Die Folgen dieser deutschen 'Normalisierung' werden auch in der EU zu spüren sein. ... Europa ist auf den guten Willen von Deutschland und seine Bereitschaft zum besonderen Einsatz angewiesen.“

Contributors (RO) /

Wahlausgang könnte für EU zum Problem werden

Die wohl schwierigen Koalitionsverhandlungen wird auch Europa zu spüren bekommen, analysiert der Politikexperte Valentin Naumescu im Blogportal Contributors:

„Eine instabile Regierung in Berlin würde für die EU bedeuten, dass sie einen der beiden Motoren des französisch-deutschen Tandems verlöre. Die Kanzlerin müsste sich mehr auf die deutsche Politik und die Interessen der Deutschen konzentrieren. Stärker mit den Koalitionsverhandlungen beschäftigt würde sie europäische Aspekte vernachlässigen. Schlimmer noch: Sie könnte beginnen, eine protektionistische Politik zu verfolgen, natürlich aus innenpolitischen Gründen. In diesem Fall würde die Reform der EU kompromittiert.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Jamaika-Koalition als Chance

Eine Koalition der Konservativen mit FDP und Grünen ist schwer vorstellbar aber nicht unmöglich, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:

„Es könnte, wenn die beiden Parteien pragmatisch vorgehen, eine Chance sein, von der grossen Koalition vernachlässigte Zukunftsthemen anzupacken. Nicht nur Autobahnen, Eisenbahnen, Datennetze, Universitätsgebäude und die Bundeswehr leiden unter ungenügenden Investitionen in die Infrastruktur. Offen bleiben auch zentrale politische Fragen nach der Überalterung der Gesellschaft, der Einwanderung, der richtigen Bildung für die Internet-Generation, des friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens in Europa und der Welt. Bei all diesen Fragen wünschte man sich schon lange mehr Führung durch die Bundesregierung. Dafür könnte das Wahlergebnis bei allen Schwierigkeiten der Regierungsbildung eine Chance sein.“

Kapital (BG) /

Die Königin und ihr Jupiter erneuern Europa

Merkel hat den Sieg schon in der Tasche, prophezeit die Wochenzeitung Kapital und freut sich, denn dadurch werde der deutsch-französische Motor wieder auf Touren gebracht:

„Der Populismus auf beiden Seiten des Rheins ist gezähmt. Nun können sich die ungekrönte Königin Europas und ihr französischer Jupiter [Macron] daran machen, die EU zu erneuern, indem sie die Eurozone reformieren, eine echte Verteidigungsunion schaffen, Schengen festigen und die vielen Lücken in der Migrationspolitik schließen. Der deutsch-französische Motor, der vor der Bundestagswahl zum Stehen gekommen war, kann jetzt wieder voll aufgedreht werden.“

Revista 22 (RO) /

Merkel findet richtigen Abstand zum Kreml

Wegen ihrer vergleichsweise distanzierten Haltung zu Russland ist Merkel die richtige Wahl, meint Revista 22:

„Sicher ist Merkel auch keine Anhängerin einer unnachgiebigen Position gegenüber Moskau. Sie hat beispielsweise umstrittene Projekte wie [die Pipeline] Nord Stream 2 unterstützt. … Doch trotz der wohlwollenden Haltung gegenüber den Russen hat Merkel es geschafft, den Europäischen Rat dazu zu bewegen, die Sanktionen gegen Moskau aufrechtzuerhalten. Und das zu einem Zeitpunkt, als nicht wenige dem Ganzen ein Ende setzen wollten. In einem russophilen und antiamerikanischen Europa hat Merkel es geschafft, Distanz zu wahren - wenngleich keine so große, wie wir es uns gewünscht hätten. … Eine rot-rot-grüne Regierung würde die deutsche und europäische Politik gefährlich nach Moskau ausrichten. Eine von Merkel geführte Regierung hingegen würde die Mitte bewahren.“

Új Szó (SK) /

Orbán muss sich warm anziehen

Im Falle einer Neuauflage der Großen Koalition werden die Regierungen in Warschau und Budapest nicht viel zu lachen haben, vermutet Új Szó:

„Ein solches Szenario würde bedeuten, dass [SPD-Chef] Schulz, der 23 Jahre lang Mitglied und schließlich Präsident des Europäischen Parlaments war, in der neuen Regierung wohl den Posten des Außenministers übernehmen würde. Schulz war nie ein Freund der rechtsnationalen Regierungen in Polen und Ungarn. Mehrfach trug er Konflikte mit den beiden Ländern aus. Und da nationale Politik anders geartet ist als die symbolträchtige Politik des EU-Parlaments, wird Schulz auch weit mehr Befugnisse haben. Für Ungarn bedeutet dies, dass Orbán sich warm anziehen müsste.“

Rzeczpospolita (PL) /

Prinzipientreue Grüne in die Regierung!

Eine Koalition Merkels mit den Grünen wäre für Polen vorteilhaft, findet Jerzy Haszczyński, Chef des Auslandsressorts von Rzeczpospolita:

„Dank Merkel hat der Westen Russland für seine Grenzverletzung und seine Aggression in der Ukraine Sanktionen auferlegt. Einen so prinzipientreuen Standpunkt vertreten in Deutschland nur noch die Grünen. Deswegen würden die Grünen als dritter Koalitionspartner neben CDU/CSU und FDP eine Bremse bilden gegenüber den riskanten Bestrebungen der deutschen Wirtschaft, die für unsere Region gefährlich werden könnten.“