Was bleibt vom Erbe der Oktoberrevolution?

In diesem Herbst jährt sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal. Nach der Entmachtung des Zaren und einem opferreichen Bürgerkrieg übernahmen Bolschewisten die Regierung und gründeten 1922 die Sowjetunion. Doch das Jubiläum wird nur noch von einer Minderheit der Russen gefeiert. Kommentatoren ergründen die Ursachen für den Bedeutungsverlust, ordnen den Umsturz ein und erinnern an dessen historisches Erbe.

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Efimerida ton Syntakton (GR) /

Weder Schwarz noch Weiß

Der Politikwissenschaftler Takis Batzelis blickt in Efimerida ton Syntakton mit gemischten Gefühlen auf die Folgen der Oktoberrevolution:

„Die Politik [der Sowjetunion] überschritt die Grenzen der nationalen Ressourcen und der Widerstandsfähigkeit der Menschen. Und sie hätte keine Chance gehabt, wenn es keine unerbittliche Verwaltung gegeben hätte. ... Was hat die Oktoberrevolution trotzdem erreicht? ... Die UdSSR der 1950er Jahre war im Vergleich zum ungestümen und rückständigen Russland der 1920er Jahre ein Industrieland mit bedeutenden Fortschritten bei der Bildung seiner Bevölkerung und der Bereitstellung sozialer Dienste. All dies wurde in nur 25 Jahren erreicht. Die erfolgreiche Verteidigung der UdSSR und der Gegenangriff nach der Nazi-Invasion wären ohne die Industrialisierung und die Ausbildung der Menschen unmöglich gewesen.“

Le Quotidien (LU) /

Lenin-Verehrung basiert auf Irrglaube

Das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Regime hat nicht erst durch Stalin totalitäre Züge erhalten, korrigiert Le Quotidien eine verbreitete Geschichtsauslegung:

„Im Jahr 1917 wurde eine Diktatur - weit entfernt von der des Proletariats - errichtet. So entstand das Regime, das für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich ist und bis 1991 fortbestand. Es gehört übrigens zum guten Ton, Stalin als denjenigen darzustellen, der die Revolution nach dem Tod Lenins verraten hat. Dabei weist das von Lenin eingeführte Herrschaftssystem bereits sämtliche Merkmale des Totalitarismus auf: allgemeine Überwachung, politische Polizei, Massenterror, ausnahmslose Repression von Dissidenten. Lenin war nicht der waschechte idealistische Revolutionär, der für das Wohl des Volks gekämpft hat. Er war ein Zyniker, der vor Exzessen und Tötungen nicht zurückschreckte, um seine Ziele zu erreichen.“

CriticAtac (RO) /

Revolution wird unter den Teppich gekehrt

Weltweit wird der Oktoberrevolution gedacht, nur nicht in Russland, beobachtet der Sozialanthropologe Florin Poenaru im Blog Criticatac:

„Es scheint, als habe es die gesamte kommunistische Tradition nicht gegeben, in der die Oktoberrevolution eine zentrale, wenn nicht gar die Gründungsrolle spielte. Der Zerfall der UdSSR, der als Zusammenbruch des Kommunismus verstanden wird, hat den Platz der Revolution eingenommen. … Doch der Zerfall hat nicht nur die Revolution überflüssig gemacht, sondern eine neue mächtige revisionistische Bewegung angeheizt. Die Zarenzeit konnte auf diese Weise neu interpretiert werden - im Hinblick auf das verfehlte Regime, das ihr folgte. Nicht zufälligerweise wird nun in Russland der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution nicht offiziell gefeiert.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Putin fürchtet einen neuen Aufstand

Für den Tagesspiegel ist es nachvollziehbar, dass sich das Russland Putins mit dem Gedenken an die Oktoberrevolution schwer tut:

„[D]iese Mobilisierung für ganz unwahrscheinliche Ideen, für den Traum von einer anderen, gänzlich neuen Welt macht noch heute Staunen. ... Der Präsident und seine engsten Führungszirkel fürchten jede Art von Aufruhr, Putsch oder gar Volkserhebung. Sie kennen die Geschichte zu gut, um nicht die Schwachstelle einer jeden autoritären Herrschaft zu kennen: die entweder ohnehin fehlende oder aber in Windeseile schwindende Legitimität. Putin hat seinen Bürgern keine Utopie mehr anzubieten, ihm bleibt nur die Berufung auf die 'Größe' Russlands, die aber immer wieder neu und jedes Mal stärker bewiesen werden muss. Auch die Krim kann man nur einmal besetzen. Und dann?“

T24 (TR) /

Utopie einer gerechten Welt aktuell wie nie

Die Utopie eines gerechten Systems, die die Menschen 1917 zur Revolution antrieb, brauchen wir weiter dringend, findet T24:

„Die Idee von Marx, dass der Kapitalismus sich sein eigenes Grab schaufelt, stellt sich in der Realität anders dar: Der Kapitalismus zerstört sich selbst und alles Leben auf der Welt. ... Durch die Katastrophen des Klimawandels wird die Welt jeden Tag ein immer weniger lebenswerter Ort. ... In vielen Ländern gewinnen rassistische oder despotische Regime an Stärke oder sind an der Macht. Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution sollten wir die Grenzen der Ideen von Marx und Lenin überschreiten und darüber nachdenken, wie wir unsere derzeitigen Probleme und die Übel des Kapitalismus überwinden können. Es lebe die Oktoberrevolution - und die Hoffnung und Chancen einer Welt, die sich alle Lebewesen gerecht teilen, ohne Krieg, Klassen und Ausbeutung!“

hvg (HU) /

Kommunistische Thesen schaffen nur Unrecht

Die der Oktoberrevolution zugrunde liegenden Ideen schaffen alles andere als eine gerechte Gesellschaft, findet hingegen der Publizist László Seres in hvg:

„Man muss nur darüber reflektieren, was für eine Gesellschaftsform aus den Thesen von Marx und Engels hervorschimmert. Human? Solidarisch? Frei? Wenn wir sehen, dass jemand mit einem gewalttätigen Sturz der herrschenden Klasse seine Ziele erreichen will; wenn wir sehen, dass sein Programm darauf abzielt, das Privateigentum von Produktionsmitteln und den freien Marktaustausch zu verbieten; wenn wir sehen, dass er auf Biegen und Brechen alles kollektivieren will; wenn wir sehen, dass er Klassenfeinde kreiert; wenn wir sehen, dass er die Repräsentanten der alten Ordnung mundtot machen will, dann sollten wir uns nicht darüber wundern, dass seine ideologischen Nachkommen Schreckensregime hervorgebracht haben.“

Õhtuleht (EE) /

Moskau hängt imperialistischen Träumen nach

Im Rückblick auf die Russische Revolution gibt es in Estland sicher nichts zu feiern, erinnert Õhtuleht:

„Ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution ist in Estland eine ganze Generation herangewachsen, die das rote Imperium nicht persönlich erfahren hat. Sie wissen nichts vom kommunistischen Regime, vom Stacheldraht an den Grenzen oder der fehlenden Redefreiheit. Indirekt leiden wir aber noch immer an den Folgen der Oktoberrevolution. Am deutlichsten äußert sich das am im Vergleich zu westlichen Ländern rückständigen Lebensstandard - eine direkte Folge der sowjetischen Besatzung, der Verschleppung nach Sibirien und der Russifizierung. Auch heute ist die Situation nicht gerade rosig. Die roten Feiertage sind zwar Geschichte, aber die imperialistische Ambition ist immer noch da. Russland hält das Zusammenbrechen der Sowjetunion für die größte geopolitische Katastrophe.“

Il Sole 24 Ore (IT) /

Jubiläum der Mythen

Am Jubiläum der Oktoberrevolution wird eine hundertjährige Fehlinterpretation der Geschichte gefeiert, meint der US-amerikanische Schriftsteller Paul Berman in Il Sole 24 Ore:

„Die Machtübernahme der Bolschewisten in Russland war reiner Zufall. ... Die Revolution wurde von niemandem vorhergesagt, doch ihr Ruhm beruht auf der falschen Überzeugung, die wissenschaftlichen Vorhersagen von Karl Marx hätten sich bewahrheitet. ... Die Absurdität dieses Widerspruchs ist die Grundlage der bolschewistischen Mystik. Und das Absurdeste ist, dass die Anziehungskraft dieser Mystik sich als ungeheuer machtvoll erwiesen hat. ... Sie war ein Kult der Vernunft und des Wahns zugleich. Und über einen langen Zeitraum des 20. Jahrhunderts hinweg war diese Anziehungskraft die stärkste der Welt.“

24 Chasa (BG) /

Revolution war vielleicht nur Fassade

24 Chasa präsentiert eine andere Version der historischen Ereignisse:

„Seit hundert Jahren zerbrechen sich die Historiker den Kopf, wie es möglich war, dass eine kleine Gruppe Bolschewisten am 25. Oktober 1917 die Macht in Russland übernehmen konnte. Die neueste Version lautet, dass sie die Macht von den zaristischen Generälen ausgehändigt bekamen. … Autor dieser Version ist [der russische Historiker] Oleg Strizhak, doch sie wurde mittlerweile von einflussreichen patriotischen Ideologen übernommen. ... Demnach brauchten die zaristischen Generäle eine proletarische Fassade, um weiter herrschen zu können, und sie hatten mit den Bolschewisten das gemeinsame Ziel, mit dem Deutschen Reich Frieden zu schließen. ... Nicht zufällig dienten nach der Oktoberrevolution mindestens 100.000 zaristische Generäle und Offiziere weiter in der Roten Armee.“

Courrier International (FR) /

Russen lassen sich nicht länger verschaukeln

Im Gegensatz zur russischen Regierung zeigen Russlands Bürger ein zunehmendes Interesse für die Geschichte, beobachtet Courrier International:

„Die Zivilgesellschaft beginnt langsam, die Vergangenheit aufzuarbeiten, indem sie debattiert und sich hartnäckig bemüht, die Vergangenheit auszugraben und die Erinnerung zu aktivieren. Und zwar auch die an Verbrechen sowie an verratene revolutionäre Hoffnungen. Die Ära Putin ist gekennzeichnet von einer oligarchisch geprägten Wirtschaft mit sozialer Komponente. Dank eines umfassend eingesetzten Staatsfonds wird scheinbar der Status-quo zwischen Eliten und Bevölkerung erhalten. Die Ungleichheiten nehmen jedoch zu. Und wenn dem Volk nicht bald ein neuer Gesellschaftsvertrag vorgelegt wird, könnte die Geduld der Russen bald zu Ende sein.“

The Guardian (GB) /

Lenin ging mit Ukrainern besser um als Putin

Im Konflikt mit der Ukraine sollten sich die russischen Eliten von heute ein Beispiel am einstigen Revolutionsführer nehmen, fordert der Historiker Serhii Plokhy in The Guardian:

„Lenin muss sich angesichts des zunehmenden Nationalismus auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Grenze in seinem Mausoleum im Grab umdrehen. Ihm war schon 1917 bewusst, dass Russen und Ukrainer zwei verschiedene Völker sind und dass die Revolution nur dann vorankommen kann, wenn diese Unterschiedlichkeit anerkannt wird. Lenin akzeptierte die formelle Unabhängigkeit der Ukraine. Wladimir Putin und die russischen Eliten stehen heute vor der Herausforderung, die tatsächliche Unabhängigkeit der Ukraine von ihrer früheren Kolonialmacht anzuerkennen. So lange das nicht passiert, kann es keinen dauerhaften Frieden in der Region geben.“