Flüchtlinge in Ceuta: Was sind die Lehren?

Spanien hat die meisten der mehr als 8.000 erwachsenen Geflüchteten wieder abgeschoben, die in der vergangenen Woche die Grenze zwischen Marokko und der Enklave Ceuta überquerten. Offenbar hatte Rabat die Migrationsströme weniger kontrolliert, weil derzeit in einem spanischen Krankenhaus Brahim Ghali behandelt wird, Führer der Westsahara-Befreiungsbewegung Polisario.

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La Vanguardia (ES) /

Madrid in der Klemme

Spaniens Regierung steckt in einem ernsten Dilemma, beschreibt La Vanguardia:

„Sollte der Anführer des Frente Polisario nach seiner Genesung unbehelligt Spanien verlassen oder fliehen können, wachsen die Spannungen mit Marokko. Sollte er hingegen festgenommen werden, weil der von einer pro-marokkanischen Vereinigung wegen Vergewaltigung, Terrorismus, Folter und Menschenrechtsverbrechen Beschuldigte der Vorladung durch den spanischen Gerichtshof nicht nachkommt, entstehen diese Spannungen mit Algerien - mit dem Land also, das ein Verbündeter des Frente Polisario ist, Ghalis Reise organisiert hatte und von dem Spanien wegen der Erdgasversorgung abhängt.“

The Irish Times (IE) /

Das ewig gleiche Hickhack

Viele vergleichen die Situation mit 2015, doch damals war die Fluchtbewegung viel stärker, erinnert The Irish Times:

„Eine viel besorgniserregendere Parallele sieht man in der Reaktion einiger europäischer Länder, die schnell wieder in alte Streitereien zum Thema Solidarität verfallen und damit zeigen, wie wenig sich geändert hat, seit die EU vor sechs Jahren in verbittertes Gezänk über die Aufteilung von Verantwortung ausbrach. Die EU ist heute einem umfassenden und humanen System zum Umgang mit illegal an ihren Ufern ankommenden Menschen nicht näher. Der Migrationspakt, den die EU-Kommission letzten September vorschlug, enthielt eine Regelung zur Umverteilung von Neuankömmlingen im gesamten Block, aber Länder wie Ungarn und Polen stellen sich quer.“

El País (ES) /

Spätfolgen von Trumps desaströser Politik

Wie die aktuelle Krise mit der US-Außenpolitik zusammenhängt, erklärt El País:

„Am Ursprung zu finden sind Donald Trump und seine Hinterlassenschaft für die arabische Welt: ein mit Sprengstoff bestelltes Feld von Marokko bis Jerusalem. Es ist das Ergebnis all jener strategischen Entscheidungen, die aus Trumps Abscheu gegenüber internationalem Recht, seiner Verehrung von Geld und Gewalt sowie der Allianz mit Benjamin Netanjahu resultieren. ... Bereits abgewählt, erkannte er noch die marokkanische Hoheit über Westsahara als Belohnung dafür an, dass Rabat die diplomatischen Beziehungen zu Israel wiederaufnahm. Das war sein Nahost-Friedensplan, in dem die Palästinenser so wenig zu sagen hatten wie internationale Institutionen – ganz zu schweigen von den Saharauis und ihrer Republik in den Dünen.“

Le Quotidien (LU) /

Europa dreht sich im Kreis

Nicht nur in Marokko ist der Migrationsdruck groß, unterstreicht Le Quotidien:

„Auf Lampedusa erreichen immer mehr Migranten die sizilianische Küste. Und ihre Anzahl wird nicht sinken, denn das Sommerhalbjahr erlaubt 'sicherere' Überfahrten. Diese Not leidenden Menschen haben der Gefahr ins Auge gesehen, um auf unserem Kontinent ihr Wohl zu finden. Ihre Ankunft in Europa ist jedoch nur eine Etappe auf ihrer Odyssee. Die europäischen Länder streiten weiterhin über ihre Aufnahme: Die einen rufen zur Solidarität auf, manche öffnen die Tür, andere schließen sie brutal und lassen nicht nur ihre 'Partner' im Stich, sondern vergessen auch schnell die Grundsätze der Solidarität. Die 'neue Welt' ist der 'alten Welt' wahrlich wie aus dem Gesicht geschnitten.“

infoLibre (ES) /

Das ist Marokkos Kalkül

Warum Spanien die bilaterale Krise mit dem Nachbarland ernst nehmen sollte, erklärt infoLibre:

„Marokko nutzt das Druckmittel der Migration, um zu verhindern, dass sich Spanien eindeutig und positiv zur sahrauischen Republik [Westsahara] positioniert. So will es seine Führungsrolle in der Maghreb-Region stärken und bringt dabei ein europäisches Nachbarland in Schwierigkeiten. Auf lange Sicht will Marokko seine Expansionsbestrebungen auf Ceuta, Melilla und die Kanaren ausweiten. Auf wirtschaftlicher Ebene macht Marokko Druck, um mehr Geld dafür zu bekommen, dass es als quasi als Subunternehmer die Grenzen dichthält. Und indirekt pocht es damit auf Vorteile bei Verhandlungen der Handelsbeziehungen. In den vergangenen Jahrzehnten ist diese Strategie aufgegangen.“

ABC (ES) /

Madrid hat Rabat leichtsinnig brüskiert

Spaniens Premier Sánchez hat zur Eskalation beigetragen, indem er diplomatische Grundregeln missachtet hat, kritisiert ABC:

„Die Regierung hat zugelassen, dass der von der Justiz verfolgte Führer der [Westsahara-Befreiungsbewegung] Polisario, Brahim Ghali, heimlich in einem spanischen Krankenhaus behandelt wurde, ohne Marokko auch nur mitzuteilen, dass dies aus humanitären Gründen geschehe. ... In der Diplomatie sind die formellen Gesten ebenso wichtig wie die zugrundeliegenden Interessen. Aber Sánchez hat die Konsequenzen unterschätzt, die es haben kann, Marokko zu verprellen, das aufgrund der vielen potenziellen Spannungen immer ein strategischer Alliierter sein muss.“

eldiario.es (ES) /

So ist das mit dem Outsourcen

Hier rächt sich, dass die EU die Grenzverantwortung auf andere abwälzt, meint eldiario.es:

„Auf dem Papier ist der Plan genial: Nicht die eigenen Staaten müssen mit Polizei und Heer die strenge Einwanderungspolitik umsetzen, sondern man beauftragt mit der Drecksarbeit afrikanische Länder. Zudem machen sie es außer Sichtweite in Transit- oder Herkunftsländern. ... Aber so ist das mit dem Outsourcen: Billig wird am Ende teuer. Immer gibt es einen widerspenstigen Subunternehmer, der die Konditionen nachverhandeln, den Preis erhöhen oder sich mit dem Auftraggeber zanken will. Dann setzt er die Dienstleistung ein paar Tage aus, wie es jetzt Marokko anscheinend mit Ceuta gemacht hat. Ergebnis: Vertragsbruch, schlechte Dienstleistung, Beschwerden der Kunden und Imageverlust.“

La Stampa (IT) /

Die Angst vor der Invasion

Die Flüchtenden werden als "Weapons of Mass Migration" benutzt, erläutert La Stampa mit einem Begriff der Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill:

„Sie ist ein alles andere als heimliches Druckmittel, diese menschliche Bombe, die im tückischsten aller asymmetrischen Kriege eingesetzt wird. Die Empörung über das wehrlose Neugeborene, das aus den Wellen vor Ceuta gerettet wird, hält genauso lange an wie der Gedanke, es könnte unser Sohn sein. ... Dann tritt das Bild in den Hintergrund, so wie seinerzeit das Bild von Alan Kurdi verblasste, und im Fokus bleiben nur die Zahlen, in Wahrheit irrelevant, aber in der Wahrnehmung der öffentlichen Meinung so hoch, dass sie als Waffe eingesetzt werden können. Denn die Angst vor einer Invasion, die mit der wirtschaftlichen Unsicherheit gewachsen ist, hat den Westen noch verwundbarer gemacht.“

Der Spiegel (DE) /

Legale Wege in die EU schaffen

Unmenschlichkeit ist nicht der einzige Weg, um Migration beherrschbar zu machen, stellt Der Spiegel klar:

„Deutschland, Frankreich, Schweden und andere [sollten] eine 'Koalition der Willigen' bilden, die das Asylrecht stärkt. Diese Koalition müsste legale Wege für Geflüchtete nach Europa schaffen, das können humanitäre Visa sein ebenso wie Familienzusammenführungen oder Jobinitiativen. Und sie müsste endlich verstärkt in das Resettlement-Programm der Vereinten Nationen investieren, das Asylsuchende geordnet aus Drittstaaten wie Jordanien in Aufnahmeländer vermittelt. Nur so lässt sich das Paradox auflösen, wonach Schutzsuchende zunächst illegal und auf meist mörderischen Routen die Grenze überwinden müssen, um dann legal in der EU Asyl beantragen zu können.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Stille Zustimmung durch Gewöhnung

Parallel zu den Ereignissen in Ceuta rettete das private Rettungsschiff Sea-Eye 4 seit Samstag mehr als 400 Menschen aus Seenot. Das Leid auf dem Mittelmeer ist Alltag geworden, beklagt Tygodnik Powszechny:

„Von Schleusern betrogene und unter Druck gesetzte Migranten und Flüchtlinge sterben fortwährend unter grausamen Umständen. Wir wissen das, aber ihr Tod ist für uns zu einem permanenten Phänomen geworden. Für die öffentliche Meinung gehört er zum Mittelmeer wie der Krieg zum Nahen Osten gehört (was ebenso falsch ist). Es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit. Es ist eher eine schlechte Angewohnheit, die die stille Zustimmung zum albtraumhaften Status quo begünstigt, einer 'Grauzone', in der vieles und Informelles passiert. “