Wofür sollte der 1. Mai stehen?
Seit über 130 Jahren demonstrieren Menschen am 1. Mai für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne. Europas Presse analysiert den Stellenwert des Feiertags, die Bedeutung der Arbeit heute und diskutiert, mit welchen Mitteln die Situation der Arbeitnehmer verbessert werden könnte.
Rasante Veränderungen
Im Zeitraffer schaut Unternehmer Dragoș Damian in Ziarul Financiar auf den Wandel der Arbeitsbedingungen:
„150 Jahre sind vergangen seit der ersten industriellen Revolution mit Wasser und Dampf, Mechanisierung, dem 15-Stunden-Arbeitstag unter miserablen und gefährlichen Bedingungen zu niedrigen Löhnen, mit der Ausbeutung von Minderjährigen; bis zur vierten industriellen Revolution im Jahr 2010 mit Digitalisierung, Robotern und Künstlicher Intelligenz, der 4-Tage-Woche, Home-Office, Telearbeit, mit Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion. ... Sicher werden Digitalisierung, Roboter und Künstliche Intelligenz viele Berufe ersetzen. ... Mal sehen, welche Arbeiter und auf welche Art an den Maifeiertagen in 10, 20 oder 30 Jahren gefeiert werden.“
Ausgebeutet und unterdrückt
Dass es in der Türkei überhaupt noch kritische Gewerkschaften gibt, findet T24 beachtlich:
„Die Struktur der Arbeiterklasse und ihre Stellung in der Gesellschaft und im Produktionsprozess verändern sich nicht nur in unserem Land, sondern auf der ganzen Welt, was die gewerkschaftliche Organisation erschwert. Aber zumindest innerhalb der OECD findet sich kein anderes Land, in dem der Arbeitssektor einen vergleichbar starken neoliberalen Angriff erlitten hat, wie der in der Türkei in den vergangenen 20 Jahren. Bedenkt man die zerstörerische Wirkung der raffgierigen, brutalen und unmoralischen Politik zusammen mit der Wirtschaftskrise und dem autoritären Regime im Lande, sollte man den Umstand, dass die [Konföderation der revolutionären Gewerkschaften Türkei] DİSK und ähnliche Gewerkschaftsstrukturen so lange überlebt haben, als Erfolg betrachten.“
Jetzt muss die 4-Tage-Woche kommen
Portugal sollte ernsthaft über die Einführung einer Vier-Tage-Woche nachdenken, schreibt der Arbeitsexperte Pedro Gomes in Público:
„Wir alle wissen um die inspirierende Kraft der Vier-Tage-Woche in der Ideenwüste, in der wir leben. Die Gewerkschaften täten gut daran, dieses Anliegen in ihre Prioritäten für Verhandlungen und kollektive Aktionen aufzunehmen. Der Kampf für eine Verkürzung der Arbeitswoche ist ein Kampf für bessere Bedingungen für die Arbeitnehmer, für eine bessere Organisation der Wirtschaft und für eine gesündere Gesellschaft, in der die Menschen mehr Zeit für sich und ihre Familien, für Kultur, gesellschaftliches Engagement und die Ausübung ihrer Freiheit haben.“
Arbeit ist keine Zumutung
Die Kleine Zeitung sieht durch die Arbeit aller den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet:
„Die Gesellschaft ist ein Energiesystem: Alle ziehen Energie heraus. Das funktioniert nur, solange jeder bereit ist, nach seinen Kräften auch Energie hineinzustecken. Der Zusammenhalt droht zu brechen, wenn sich zu viele mit Teilzeit, Auszeit, Frühpension aus dem Erwerbsleben ziehen. Und wenn wir Asylwerber nicht voll in den Erwerbsprozess integrieren. Deshalb brauchen wir einen Grundkonsens: Arbeit ist keine Zumutung, sondern die gelebte Solidarität des Für-einander-da-Seins.“
Kapital stärker besteuern, Löhne weniger
Gerechtere Steuersysteme fordern Bruno Fierens und Djaffar Shalchi vom Netzwerk Millionaires for Humanity in Le Soir:
„Wir denken, dass eine gesunde Gesellschaft ein gesundes Niveau an Fairness benötigt, und von unserer privilegierten Position aus sehen wir deutlich, dass die aktuellen Spielregeln nicht fair sind. Sie schaden dem sozialen Gefüge und die politische Polarisierung in noch ungleicheren Ländern zeigt, dass sie auch die Demokratie gefährden. ... Die Möglichkeiten, diese wachsende Kluft zu reduzieren und das System gerechter zu machen, sind zahlreich, aber unsere Botschaft an die politischen Entscheidungsträger ist ganz einfach: Schenken Sie uns weniger Beachtung und machen Sie die Dinge fairer durch eine stärkere Besteuerung des Kapitals und eine geringere von Arbeit.“
Für Erdoğan ein wunder Punkt
Offiziell aus Sicherheitsgründen hat Präsident Erdoğan Demos auf dem Istanbuler Taksim-Platz verbieten lassen. Symbolische Bedeutung hat der Platz, weil dort 1977 bei der Mai-Demo 34 Menschen getötet wurden, aber auch weil dort 2013 die regierungskritischen Gezi-Proteste stattfanden. Der Platz ist für Erdoğan ein wunder Punkt, so Yetkin Report:
„Man kann sich fragen, ob das eigentliche Thema für Erdoğan der 1. Mai oder der Taksim-Platz ist. Vielleicht lautet die Antwort: der 1. Mai auf dem Taksim-Platz. Sonst könnte er sagen: Lasst sie doch an genehmigten Orten feiern und herumschreien. Hätten die Tausenden Polizisten, die den Taksim-Platz abriegelten, nicht die Sicherheit der Demonstranten dort gewährleisten können? ... Der 1. Mai ist ein Symbol, aber die symbolische Last des 1. Mai auf dem Taksim-Platz wiegt für Erdoğan noch schwerer.“
Feiertag der Freiheit stärken
Die symbolische Bedeutung des Tages in Serbien hebt Vreme hervor:
„Den Verlautbarungen des populistischen serbischen Regimes nach zu urteilen, ist der 1. Mai völlig unnötig. Aber wenn wir hinter die traumwandlerische Rhetorik des Regimes schauen, stoßen wir auf die pure Angst vor der Freiheit: Wo immer die Möglichkeit besteht, dass die Untertanen vom Phantom der Freiheit besudelt werden, sollen Orte (zum Beispiel Universitäten), Symbole (1. Mai) und Institutionen (das Parlament) beschmutzt, sinnlos gemacht und natürlich ausgelöscht werden. ... Deshalb wäre die Wiederbelebung des 1. Mai als Feiertag der Freiheit von höchster gesellschaftlicher Bedeutung: Ein freier Mann ist im Gegensatz zu einem Untertan immer gegen eine Diktatur.“