Europa allein zu Hause

Von heute auf morgen in den eigenen vier Wänden isoliert – auf diese neuen Lebensumstände müssen sich in Europa Millionen Menschen einstellen. Und auch dort, wo die Bewegungsfreiheit noch nicht eingeschränkt ist, ziehen sich viele zurück, um die Ausbreitung der Corona-Pandemie zu verlangsamen. Journalisten ermutigen ihre Leser, das Beste aus der Situation zu machen.

Alle Zitate öffnen/schließen
Berlingske (DK) /

Lest, schreibt, vermehret euch!

In der Coronakrise sieht Berlingske auch eine Chance:

„Die Wartezeit im mehr oder minder selbst gewählten Heimgefängnis sollte kreativ und vernünftig genutzt werden. Man kann ja hoffen, dass diese Zeit, wie beim Ausgangsverbot während der Besatzung, in einen regelrechten Babyboom mündet. ... Man kann auch hoffen, dass diese besondere Zeit neue Kunst und Literatur hervorbringt. Vielleicht sehen wir bald einen neuen Thomas Mann, der Tod in Venedig mit der Cholera-Epidemie als Kulisse schrieb. ... Die Coronakrise wird mit großer Sicherheit zu einer größeren Einsatzbereitschaft führen, wenn in der Zukunft neue Epidemien drohen. Und man kann darauf hoffen, dass die Dänen erkennen, dass wir uns nicht von der Welt isolieren können, sondern dass wir international zusammenarbeiten müssen.“

Primorske novice (SI) /

Vordenker der Aufklärung weisen Weg in die Natur

Die Isolation bietet die Möglichkeit, sich den Dingen zu widmen, für die wir im hektischen Alltagsleben sonst keine Zeit haben, kommentiert Primorske novice:

„Unter Quarantäne erledigen viele Aufgaben, für die sie davor keine Zeit gefunden haben. Einigen ist aufgefallen, dass sie ein Trampolin vor dem Haus haben, das noch nicht völlig kaputt ist. Andere haben bemerkt, dass sie Verwandte haben. Viele haben festgestellt, dass der gute alte Voltaire Recht hatte: Es stimmt, der Garten wartet auf uns. Lasst uns Rousseaus Aufruf 'zurück zur Natur' folgen, auch wenn wir nur einen kurzen Spaziergang machen. Man sollte jetzt zwischen Bäumen und Feldern spazieren gehen. Es ist Zeit, die Natur ohne Gesellschaft zu erkunden.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Allein sein können ist eine Tugend

Nun zeigt sich, was Eltern in der Erziehung ihrer Sprösslinge versäumt haben, beobachtet die Schriftstellerin Lucía Etxebarria in El Periódico de Catalunya:

„Die Kinder langweilen sich, heißt es. Trotz zehn TV-Zeichentrick-Kanälen, Tablets, Videokonsolen und Handys. Mit zehn Jahren. Langeweile ist die Grundlage für Kreativität und Motivation. Die Eltern, die aus der Kindheit ihrer Nachkommen ein Disneyland machen, indem sie für ständige Unterhaltung sorgen, verstümmeln sie emotional und kastrieren ihre Vorstellungskraft. ... Zu lernen, Zeit alleine zu verbringen, ist so wichtig wie der richtige Umgang mit den anderen. Denn ein gutes Alleinsein schützt vor schlechter Begleitung. Wer nicht allein sein kann, hängt sich an jeden dran, nur weil er sich selbst nicht aushält. Wer nicht allein sein kann, weiß nicht zu leben.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Nicht alle können Sozialleben ins Netz verlagern

Nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung sind nun besonders isoliert, erinnert Alek Tarkowski, Experte für die Soziologie des Internets, in Gazeta Wyborcza:

„Wenn wir weitere öffentliche Institutionen schließen, stehen wir vor der Herausforderung, schnell online eine soziale Welt gestalten zu müssen, in der Beziehungen und soziales Kapital gepflegt werden. Wir können die Krise jedoch nicht einfach durch einen Wechsel ins Netz lösen. ... Vergessen wir nicht, dass 18 Prozent der Polen das Internet noch nie benutzt haben und einige weitere es nur sehr selten nutzen. Diesen Menschen droht eine erhebliche Isolation. Ihnen bleiben noch die Massenmedien und der Telefonkontakt mit ihren Liebsten. Sie haben jedoch keinen Zugang zu aktuellen Informationen, einem breiteren kulturellen Angebot oder Unterstützungs- und Kommunikationsnetzwerken.“

newsru.com (RU) /

Besinnungspause auf einem hektischen Planeten

Als Gelegenheit, innezuhalten, sieht Publizist Alexander Schmelew in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post die Corona-Pandemie, sei die moderne Welt doch vielen zu hektisch geworden:

„In der Folge hat sich der Wunsch weit verbreitet, irgendwie die Zeit anzuhalten, aus dem Hamsterrad auszubrechen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. ... Nun gibt uns das Coronavirus eine Chance. Denn auf dem ganzen Planeten ist vorübergehend Pause. Das ist eine Möglichkeit, die ewige Rennerei zu beenden und in meditative Selbstisolierung zurückzukehren. Ein Tag gleicht dem anderen, du gehst nirgendwohin, redest mit niemandem und kannst in aller Ruhe über fundamentale Fragen nachdenken (etwa über Leben und Tod, wozu eine Epidemie sehr animiert), dicke Bücher lesen und dergleichen. Wie das alles endet, ist vorerst unklar, aber als soziales Experiment ist es äußerst interessant.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Unsere Ziele lösen sich in Luft auf

Der moderne Mensch muss nun damit klarkommen, dass seine To-Do-Listen Makulatur geworden sind, erklärt Philosophin Barbara Bleisch im Tages-Anzeiger:

„Denn seine Existenz ist randvoll mit Dingen, die Kieran Setiya, Philosophieprofessor am MIT in Boston, als 'telisch' bezeichnet: Tätigkeiten, die auf ein Ziel (griechisch 'telos') gerichtet sind und damit auf einen Endpunkt zustreben, an dem sie ausgeführt und abgeschlossen sind. ... Corona wird uns diese Marotte zwangsläufig austreiben. Denn viele unserer Ziele sind aufgeschoben oder gar aufgehoben. Sich neue Ziele zu setzen, ist schwierig. Wer weiss schon, was die kommende Woche, was der nächste Monat bringt? Wir werden lernen müssen, den Wert weniger zielgerichteter Tätigkeiten neu zu schätzen.“

The Times (GB) /

Corona-News sind wie Salzwasser gegen den Durst

Wer nun pausenlos die neuesten Schlagzeilen verfolgt, läuft Gefahr, krank zu werden, warnt The Times:

„Wir gieren nach immer neuen Nachrichten - in der Hoffnung, dass diese Antworten liefern und diese Antworten ein Trost sein werden. Wir hoffen, durch ein Mehr an Information wieder ein Gefühl der Kontrolle erlangen zu können. 'Wissen ist Macht', wurde uns gesagt. Aber das Aufsaugen von Nachrichten lindert unsere Sorgen nicht. Es ist so, als würden wir Salzwasser trinken, um unseren Durst zu stillen: Zunächst wirkt es, doch letztendlich ist es kontraproduktiv. ... Viele isolieren sich derzeit von anderen, um ihre körperliche Gesundheit zu erhalten. Unserer psychischen Gesundheit zuliebe sollten sich viele von uns auch von den Rund-um-die-Uhr-Nachrichten fernhalten.“

Mediapart (FR) /

Lesen, aber nicht bei Amazon bestellen

Die Isolation bietet vielen Menschen die Gelegenheit, endlich viel zu lesen, freut sich Blogger François Gèze in Mediapart und legt den Lesern bedachtes Kaufverhalten ans Herz:

„Ohne die Buchhandlungen, die verlegerisches Schaffen fördern und eine wesentliche Rolle dabei spielen, neue Gedanken und literarische Innovationen bekannt zu machen, erhielten Bücher weder Aufmerksamkeit noch Leserschaft. In der derzeitigen Krise müssen Sie die Bücher, die Sie interessieren, online kaufen. Ich fordere Sie auf, sie auf keinen Fall bei Amazon zu bestellen, sondern in den Online-Shops der unabhängigen Buchhandlungen. … Dies ist auch eine wichtige Geste der Unterstützung für diese Buchläden, deren Existenz durch die aktuelle Krise stark bedroht ist.“

Milliyet (TR) /

Kunst im Netz hält uns zusammen

Dank Internet und sozialer Medien sitzen wir trotz Veranstaltungsverboten kulturell nicht auf dem Trockenen – und das sollten wir würdigen, fordert Milliyet:

„Bücher, Fernsehfilme, Serien sind derzeit unsere engsten Freunde. Die sozialen Medien sind so effizient und nützlich wie nie zuvor. Über sie kann die Kunst uns erreichen und uns sagen: 'Wir sind nicht allein, wir sind alle immer noch verbunden'. ... Es wäre gar nicht schlecht, wenn daraus kostenpflichtige Events mit bezahlbaren Tickets würden. ... Erst dann könnte man auch von einer beidseitigen Solidarität sprechen. Denn es liegt auf der Hand, dass diese Menschen, die die ihre Konzerte und Theateraufführungen nun abgesagt haben, genau wie wir von etwas leben müssen.“