EZB-Anleihenkäufe: Tauziehen Brüssel - Berlin

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwägt ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Dessen Verfassungsgericht hatte am 5. Mai die Staatsanleihenkäufe der EZB beanstandet, unter anderem, weil Beschlüsse nicht auf Verhältnismäßigkeit überprüft worden seien. Von der Leyen argumentiert, die Währungspolitik sei Zuständigkeit allein der EU. Ist ein Verfahren der richtige Weg?

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Financial Times (GB) /

Ohne Deutschland keine EU

Es wäre gleich doppelt verrückt, wenn die EU-Kommission ihre Drohung in die Tat umsetzen würde, warnt Kolumnist Gideon Rachman in Financial Times:

„Deutschland ist das größte Land in der EU und leistet den größten Beitrag zum Haushalt. Die EU kann nicht gegen ihre Mitgliedstaaten gestaltet werden, am allerwenigsten gegen Deutschland. Der Staatenverbund kann den Brexit überleben - doch ohne Deutschland gäbe es keine EU. Meinungsumfragen in Deutschland legen nahe, dass das Verfassungsgericht die angesehenste Institution des Landes ist. Auch die Bundesbank gilt traditionell als besonders bedeutsamer Hüter der deutschen Nachkriegsdemokratie. ... Sollte sich die EU entscheiden, zwei der wichtigsten Säulen der deutschen Nachkriegsstabilität zu demütigen, würde dies zu einer Gegenreaktion der Öffentlichkeit führen.“

Le Monde (FR) /

Karlsruhe will Gemeinschaftsrecht stärken

Eine verbesserte Kontrolle der EZB-Programme stärkt die europäische Rechtsordnung, argumentiert der Berliner Europarechtler Matthias Ruffert in Le Monde:

„Warum hat die EZB, nachdem die EU der Deflation entkommen war, was in den letzten vier Jahren mindestens einmal geschah, ihre Aufkaufpolitik nicht beendet? Muss man in Erinnerung rufen, dass Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die direkte Finanzierung von Staaten ausdrücklich untersagt? ... Vor diesem Hintergrund könnte die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts an die EZB, ihre Entscheidungen auf eine genauere Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu stützen, eine solidere Ausführung des EZB-Mandats bewirken. Diese Entscheidung ist also als ein Appell an eine Stärkung unseres Gemeinschaftsrechts zu verstehen.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Jetzt liegt der Ball bei der EZB

Die EZB hat genug Spielraum, um eine Krise der Union zu verhindern, glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:

„Der Rat der EZB müsste jetzt, damit alles auch aus Karlsruher Sicht europarechtskonform zugeht, nur nachvollziehbar darlegen, dass die mit dem Ankaufprogramm für Staatsanleihen PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschaftlichen Auswirkungen stehen. Das dürfte die EZB nicht überfordern. Sie müsste sich auch kein Bein ausreißen, um diese ja nicht völlig aus der Luft gegriffene Anforderung des Verfassungsgerichts eines wichtigen Mitgliedslandes zu erfüllen. … Jedenfalls sollte das Bemühen um einen gemeinsamen europäischen Weg nicht in ein Vertragsverletzungsverfahren münden.“

El País (ES) /

Deutscher Sonderweg weckt ungute Erinnerungen

Dass sich das Bundesverfassungsgericht über die Instanzen der europäischen Justiz erhebt, ist ein schlechtes Signal, warnt Lluís Bassets in El País:

„Der Konflikt weist einen Weg in eine falsche, antieuropäische Richtung: hin zu einem hegemonialen Mitglied, das aufgrund seiner demografischen Größe, seines Reichtums und seiner zentralen geografischen Lage über die mächtigeren Institutionen verfügt. Es geht hier nicht mehr nur um die von Deutschen und Franzosen besetzten Chefetagen, die schon so oft kleinere Mitgliedsstaaten irritierten. Es geht um ein deutsches Europa als Weiterführung eines ehernen Traums von Bismarck und später eines blutigen Alptraums unter Hitler, und eine Vision, die Helmut Kohl als Kanzler der Einheit so entschieden zurückwies, indem er als Erster entschieden auf ein europäisches Deutschland pochte.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Europa braucht Klarheit

Der Tagesspiegel findet von der Leyens Erwägung richtig:

„[D]er Karlsruher Richterspruch [könnte] durchaus dazu führen, dass demnächst Gerichte in Polen oder Ungarn mit Verweis auf Deutschland munter Gerichtsentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs anzweifeln. Für den Bestand der EU, die sich ohnehin in einer kritischen Phase befindet, würde dies nichts Gutes bedeuten. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn von der Leyen ihrer Drohung mit einem Vertragsverletzungsverfahren auch Taten folgen ließe. Mit einem solchen Verfahren würde sich die EU-Kommission zwar auf ein heikles Terrain begeben. Denn nicht nur die Europäische Zentralbank und der EuGH sind unabhängig – das Bundesverfassungsgericht ist es auch. Aber wenn es zu einer endgültigen Klarstellung käme, dass die EZB allein dem Europäischen Gerichtshof verantwortlich ist, wäre das auch nicht das Schlechteste.“

Welt (DE) /

Nichts als Wunschdenken

Dass von der Leyen davon spricht, das deutsche Urteil tangiere die "europäische Souveränität", irritiert die Tageszeitung Die Welt:

„Die EU ist kein Staat, kein Bundesstaat, nicht einmal ein Staatenbund. Sie ist eine Interessengemeinschaft souveräner Staaten ... Es gibt keine europäische Nation, keine europäische Verfassung und keine europäische Souveränität. Es gibt eine EU-Fahne und eine EU-Hymne. Die Kommission, der Frau von der Leyen vorsitzt, geriert sich gerne wie eine Regierung, ist aber keine. Und das EU-Parlament nennt sich zwar das 'direkt gewählte Legislativorgan der Europäischen Union', aber auch das stimmt nur sehr bedingt. ... Ein luxemburgischer MdEP vertritt etwa 83.000 Einwohner seines Landes, ein französischer zehnmal so viele. Unter solchen Bedingungen von einer 'europäischen Souveränität' zu sprechen, ist schon sehr gewagt.“

Público (PT) /

EU muss Deutschland die Stirn bieten

Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wäre historisch, aber angesichts der Umstände die einzig richtige Antwort, findet Público:

„Schafft es Europa, sich einmal Deutschland und seinen Geistern zu stellen? Den Geistern, die sich in der AfD vereinen - der rechtsextremen Partei, die am Ursprung des Prozesses steht? Die Zukunft Europas hängt von dieser Frage ab. Es ist ein Europa, das seit Jahren in einer Krise steckt und in dem die schönen Worte anlässlich von Feierlichkeiten großer Momente nicht so recht mit dem täglichen Leben der Bürger zusammenpassen. Ursula darf hier nicht versagen, und ebenso wenig im Kampf gegen die Rezession, die uns bevorsteht. Noch mehr Misserfolge - und die Idee von Europa stirbt oder wird auf den Eurovisions-Wettbewerb reduziert.“

Haniotika Nea (GR) /

Der tiefe deutsche Staat

Berlin zeigt seinen EU-Partnern sein hässliches Gesicht, kritisiert Kolumnistin Kyra Adam in Haniotika Nea:

„Obwohl es dazu in der Lage wäre, weigert sich Berlin, seine Hilfe anderen europäischen Ländern anzubieten, die von der Pandemie schwer getroffen wurden und kurz vor einem erneuten wirtschaftlichen Zusammenbruch stehen. … Es tut dies hartnäckig und protzig, so dass jeder versteht, dass Deutschland die einzige führende Kraft in der Europäischen Union ist. Es hat seine Staatskassen geöffnet, um nur die großen deutschen Unternehmen zu retten. Und noch schlimmer, es zeigt deutlich, dass es Europa mit Waffen der wirtschaftlichen Unterdrückung anderer europäischer Länder 'erobern' will, insbesondere Länder des wirtschaftlich instabilen europäischen Südens. … Wir stehen also vor dem deutschen tiefen Staat.“

Krytyka Polityczna (PL) /

Mächtige Munition für Warschau und Budapest

Das Urteil ist Wasser auf die Mühlen all jener Regierungen, die schon lange meinen, dass die EU zu viel Macht habe, klagt Krytyka Polityczna:

„Die Präsidentin des polnischen Verfassungsgerichts, Julia Przyłębska, stellte mit Befriedigung fest, dass ihre deutschen Amtskollegen bestätigten, dass die nationalen Gerichte das letzte Wort hätten. ... Wenn auch Deutschland den EuGH ignoriert, warum sollte sich jemand in Warschau Sorgen machen über die Kritik eines europäischen Gerichts an den 'Reformen' des polnischen Justizsystems? ... Durch diese rechtliche Auseinandersetzung hat Karlsruhe Budapest, Warschau und alle anderen, die das Gemeinschaftsrecht und das Brüsseler Recht auf 'Einmischung' infrage stellen, vorerst mit mächtiger Munition ausgestattet.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Ende einer selbstherrlichen EU

Das Karlsruher Urteil ist ein Zeichen für mehr Demokratie und Rechtsstaat, freut sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung:

„Deutschland ist einer EU beigetreten, in der die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge sind - und jeder Bürger einen Anspruch darauf hat, dass EU-Organe sich im Rahmen der gemeinsam vereinbarten Regeln halten. ... Deshalb ist das Karlsruher Urteil gerade in dieser Zeit so wichtig, in der die EU von starken Fliehkräften heimgesucht wird. Solange es für eine Schuldenunion kein Mandat gibt, kann die EZB keine schaffen. ... [D]ie EU als Staatenverbund ist an das Demokratieprinzip gebunden, und sie ist eine Rechtsgemeinschaft. Diese Botschaft muss ausstrahlen – gerade auch nach Osteuropa. Das ist nicht das Ende der EU, aber hoffentlich das Ende ihrer bürgerfernen, selbstherrlichen Form.“

El País (ES) /

Klarer Affront gegen europäische Autorität

El País ärgert sich über das Urteil:

„Das Fragwürdigste ist, dass [das Bundesverfassungsgericht] seiner übergeordneten Instanz in europäischem Recht widerspricht, dem EU-Gerichtshof, den es zuvor konsultiert hatte. Und es stellt dessen Kompetenz infrage, mit der Theorie, dass die Staaten Eigentümer ihrer Verträge sind und sich deren Normen bei Kompetenzüberschreitungen nach eigenen Kriterien widersetzen können. Dieser Theorie können die europäischen Institutionen wohl kaum folgen. Denn auch wenn es die Regierungen sind, die die Abkommen unterzeichnen, obliegt die Auslegung des europäischen Rechts doch in oberster Instanz dem Gerichtshof in Luxemburg. So bestimmt es der EU-Vertrag (Artikel 19). Nicht nur die EZB muss nun klar Stellung beziehen, sondern auch der EuGH.“

De Standaard (BE) /

Der EZB nicht alles überlassen

Das Urteil wirft einen Schatten auf die Stabilität des Euro, die aber schon länger ein Problem ist, mahnt De Standaard:

„Fluchen über Karlsruhe hat aber wenig Sinn. Die deutsche Zurückhaltung bei der Währungspolitik ist schon länger bekannt. Die Beträge, die die EZB jahrelang aus dem Nichts geschaffen hat, werden langsam aber sicher unwirklich. Es ist Zeit anzuerkennen, dass die EZB es nicht alleine schaffen kann. Die Euroländer müssen selbst Verantwortung ergreifen im gemeinsamen Feldzug gegen aufeinander folgende Krisen. Der Euro hält ihrer ewigen Uneinigkeit auf Dauer nicht stand. “

La Repubblica (IT) /

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird

La Repubblica versucht sich in Optimismus:

„Auch wenn sich das Urteil auf die Aufkaufprogramme von 2015 bezieht, wirft es einen Schatten auf die aktuell laufenden Käufe, bei denen der Anteil italienischer Anleihen der weitaus größte aller Länder ist. Die Situation ist aber nicht ausweglos: Zunächst einmal ist das Urteil vorläufig; darüber hinaus kann die deutsche Regierung den unglückseligen Richtern von Karlsruhe etwas gesunden Menschenverstand anraten; selbst die EZB kann ihre Zweifel leicht beantworten. Schließlich scheinen die heutigen Interventionen der Bank, die für Italien lebenswichtig sind, vor Kritik sicher zu sein, da sie bei einem außergewöhnlichen und verheerenden Ereignis wie der Pandemie 'angemessen' sind.“