Lieferengpässe in Großbritannien spitzen sich zu

Die Lieferengpässe bei Benzin und Lebensmitteln in Großbritannien halten an und haben die Inflationsrate auf über vier Prozent getrieben. Viele Beobachter sehen die Notlage auch als Folge des Brexits, Premier Johnson dagegen spricht von einer Übergangsphase, die sich noch auszahlen werde. In den Kommentarspalten wird weiter lebhaft diskutiert, wie mit dieser Situation am besten umzugehen ist.

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The Daily Telegraph (GB) /

Was ist aus 'Keep calm and carry on' geworden?

Die Briten legen gänzlich unbritisches Verhalten an den Tag, moniert The Daily Telegraph:

„Eine alarmierende Anzahl der Briten neigt zu einer Handlungsweise, die uns früher völlig fremd war, weil sie nicht unserem Charakter und unserer Kultur zu entsprechen schien: Massenpanik. Obwohl oder gerade weil der Premierminister sagte, dass es nicht nötig sei, panisch Sprit zu kaufen, machten Millionen genau das sofort. ... Vor 18 Monaten wurde uns gesagt, dass es genug Toilettenpapier, Nudeln und Mehl für alle gebe und Leute strömten sofort in die Supermärkte. ... Wir sind das Volk, das die Schlacht an der Somme, die Wirtschaftskrise, den Blitzkrieg auf London, die Suezkrise und die gesammelten Schrecken der 1970er (samt Benzinmangel) überstanden hat. Was ist passiert?“

The Sunday Times (GB) /

Das hat nichts mit Panik zu tun

Die Städter haben gut reden, aber auf dem Land wird der Mangel zum existentiellen Problem, schreibt The Times:

„Noch immer gibt es kaum Treibstoff und unendlich lange Schlangen. Öffentlicher Nahverkehr existiert kaum - der alte Witz vom knorrigen Bauern, der dem Stadtmenschen erklärt, dass der nächste Bus morgen fährt, ist nur eine geringfügige Übertreibung. ... Deshalb ist es so irritierend, wenn Politiker und Organisationen aus den Stadtzentren die 'ungezogenen' Landmenschen tadeln und ihnen unterstellen, dass sie ihre Panikeinkäufe tätigen, weil sie gierig und schlecht sind. Tatsächlich warten die Menschen stundenlang sehr geduldig in den Schlangen, denn mit leerem Tank säßen sie ohne Essen fest, könnten ihre Kinder nicht chauffieren und selbst nicht zur Arbeit erscheinen.“

Sydsvenskan (SE) /

Stell dir vor, es gäbe freien Warenverkehr!

Es gäbe durchaus Lösungen, um solche Engpässe künftig zu verhindern, schreibt Sydsvenskan ironisch:

„Die Briten hätten einen anderen Weg einschlagen können. Sie hätten sich mit anderen Europäern zusammentun können und eine Art gemeinsamen Markt errichten können. Man stelle sich vor, Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital könnten sich frei über Ländergrenzen bewegen, um den größtmöglichen Nutzen zu bringen. What a great idea!“

eldiario.es (ES) /

Das passiert, wenn man Populisten glaubt

Wer die Wahrheit nicht hören will, bekommt sie zu spüren, schreibt eldiario.es:

Die Geschehnisse im Vereinigten Königreich sind ein Beispiel dafür, wie falsche Botschaften von Politikern und eine fehlerhafte Berichterstattung, die von einigen Medien verstärkt wird, so weit verbreitet sein können, dass eine parallele Realität entsteht ... In vielerlei Hinsicht ist der Fall des Vereinigten Königreichs eine Warnung an alle vor der Gefahr leerer politischer Rhetorik, die mit unverschämten Lügen gespickt ist. ... Journalisten sind wie immer diejenigen, die diese Seifenblase zum Platzen bringen können. ... Es ist nie einfach, in den Spiegel nationaler Schande zu blicken, aber wenn nicht jetzt, wann dann?“

Le Soir (BE) /

Späte Ernüchterung

Die Auswirkungen des Brexits kommen für viele Briten unvermittelt, analysiert Le Soir:

„Die Organisation der Post-Brexit-Vorbereitungen traf auf Skepsis und eine Ernüchterung bei vielen Briten, die fast schon Zynismus glich. ... Es herrscht eine seltsame Mischung aus Apathie, Fantasielosigkeit und auch blindem Vertrauen auf das Schicksal. Die Geschichte zeigt, dass Albion [antiker Name für Großbritannien] immer erst reagiert, wenn eine Gefahr unmittelbar bevorsteht. Diese grundlegenden Strukturen sind Teil der nationalen Psychologie. Offensichtlich können sich nur Außenstehende Sorgen um die Zukunft eines Königreichs machen, das einst Herr eines Reiches war, über dem die Sonne nie unterging.“

Zeit Online (DE) /

Arbeitskräfte werden auch im Rest Europas knapp

Der Brexit ist nur eine Ursache, betont Zeit Online:

„Die Corona-Krise sorgte erst dafür, dass viele Fahrstunden und Führerschein-Prüfungen für neue Lkw-Fahrer ausgefallen sind. Jetzt bewirkt das Ende dieser Krise, dass der Bedarf an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in allen Teilen der Wirtschaft sprunghaft steigt. ... Und schließlich spielt im Hintergrund noch ein langfristiger Trend eine Rolle, der die deutsche Wirtschaft genauso betrifft wie die britische: Arbeitskräfte werden knapp. ... Die wichtigste Lehre aus dem britischen Beispiel sollte daher sein: In Zukunft müssen wir uns intensiver als bisher darum bemühen, ausländische Fachkräfte ins Land zu holen. Früher konkurrierten Staaten um Direktinvestitionen, heute konkurrieren sie um Klempner, Krankenpflegerinnen und, ja, Lkw-Fahrer.“

ABC (ES) /

Häme ist jetzt nicht angebracht

Die Politik täte gut daran, sich in Demut zu üben, findet ABC:

„Es wäre auch nicht vernünftig, wenn die Europäische Union diese chaotische Situation im Vereinigten Königreich selbstgefällig als gerechte Strafe für die Brexit-Entscheidung betrachten würde ... Gute wirtschaftliche und politische Beziehungen zwischen London und Brüssel sind nach wie vor vonnöten, aber es würde nicht schaden, wenn die britischen Politiker, die ihre Landsleute in ein falsches Paradies ohne Europa gedrängt haben, zunächst etwas Demut an den Tag legen würden. Viele Briten werden sich angesichts leerer Supermarktregale oder geschlossener Tankstellen, aber auch angesichts des Fehlens von Krankenschwestern und anderen guten Fachkräften fragen, ob sich der Brexit gelohnt hat.“

The Irish Times (IE) /

Schuld sind immer die Anderen

Die britische Regierung macht sich lächerlich, findet The Irish Times:

„Die Minister beharren weiter darauf, dass das alles nichts mit dem Brexit zu tun hat. Es gibt - sagen sie zumindest - in ganz Europa Engpässe und einen Fahrermangel (nur merkwürdigerweise keine Schlangen an Tankstellen), weil das Transportwesen sich mit langfristigen Herausforderungen wie überalterten, schlecht bezahlten Arbeitskräften konfrontiert sieht. ... Jetzt sind also die Transportunternehmen schuld, genauso wie alle anderen, selbst Covid - nur nicht die ideologisch getriebenen Kämpfer für die Festung Großbritannien.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Bürger zahlen die Zeche

Die Krise kommt nicht von ungefähr, erklärt die Frankfurter Rundschau:

„Warum ist das so? Zum guten Teil deshalb, weil auslän­di­sche Fahrer fehlen, die nach dem Brexit das Land verlas­sen haben bezie­hungs­wei­se verlas­sen muss­ten. Nun will die Regie­rung sogar Solda­ten als Fahrer einset­zen. Das hat etwas von Notstands­maß­nah­me und ist ein weite­rer Beleg dafür, dass es eben einen großen Unter­schied bedeu­tet, ob man dem Binnen­markt ange­hört oder nicht. ... Die Zeche aber zahlen die Bürger: die, die auf die Brexit-Propa­gan­da herein­fie­len, ebenso wie jene, die gegen den Austritt stimm­ten. So sind sie vereint im Warten auf ein paar Liter Benzin und im Inspi­zie­ren leerer Regale.“

Polityka (PL) /

Von den Fehlern der Briten lernen

Polen, in dessen Regierungspartei einigen die Idee eines "Polexits" vorschwebt, sollte die Engpässe in Großbritannien genau beobachten, rät Polityka:

„In gewisser Weise hat Johnson Recht: Es ist ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Aber die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es sich nur um Pech handelt, ist ein perfider Taschenspielertrick. Die Wirtschaft leidet unter einem Arbeitskräftemangel, und der ist die Folge des Brexits. ... Die Warteschlangen an den Londoner Tankstellen am Wochenende sind in Wirklichkeit nur ein Vorgeschmack auf die Instabilität, auf die ein souveränes, stolzes Großbritannien, das vom Rest eines vereinten Europas abgeschnitten ist, unweigerlich zusteuert. ... Es lohnt sich, diesen Prozess zu beobachten - schließlich ist es besser, aus den Fehlern Anderer zu lernen als aus den eigenen.“

The Observer (GB) /

Quittung für Brexit und Politikversagen

Mit Corona hat die aktuelle Krise nur wenig zu tun, führt The Observer aus:

„Nicht nur die Lebensmittelversorgung leidet unter dem Brexit: Auch in der Pflege gibt es eine wachsende Krise durch Personalmangel, der sowohl durch die Pandemie als auch durch die Einwanderungsregeln nach dem Brexit ausgelöst wurde. ... Die Pandemie hat die Lage vielleicht verschlimmert. Aber was in den Bereichen Energie, Ernährung und Gesundheit gerade passiert, zeigt, dass die jahrelange Vernachlässigung des britischen Wohnungsbaus, der Gesundheitsversorgung und wichtiger Infrastrukturen in Kombination mit einer fanatischen Brexit-Besessenheit der politischen Rechten, Familien teuer zu stehen kommt.“

The Daily Telegraph (GB) /

London, bitte Verantwortung übernehmen

Statt die Schuld auf die Pandemie zu schieben, sollte die Regierung dazu stehen, dass sie es verpasst hat, früher auf den Arbeitskräftemangel zu reagieren, ärgert sich The Daily Telegraph:

„Vor Monaten schon wurden Minister vor den weitreichenden Folgen eines Mangels an Lkw-Fahrern gewarnt. Jetzt zu behaupten, dass dieses Problem in Europa und der ganzen Welt existiert, ist ein Wegducken vor der Pflicht, das Problem zu lösen. Eine der Hürden war der Rückstau an Führerscheintests in der Zulassungsstelle, der auf die Pandemie geschoben wird. ... Die Regierung weigerte sich zudem, ausländischen Fahrern vorübergehende Visa zu erteilen, weil dies gegen die Brexit-Regeln zur Kontrolle der Grenzen verstoßen hätte.“