Was bleibt ein Jahr nach der Rückeroberung Kabuls?

Genau ein Jahr ist die Wiedereroberung Afghanistans durch die Taliban her. Mitte August 2021 gingen die Bilder um die Welt, auf denen verzweifelte Menschen versuchten, am Flughafen in Kabul in ein Flugzeug zu gelangen, um das Land zu verlassen. Kommentatoren ziehen eine Bilanz.

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Cyprus Mail (CY) /

Man hatte eine alte Lektion vergessen

Der Kolumnist Gwynne Dyer schreibt in Cyprus Mail:

„Die westlichen Armeen wurden aus Afghanistan vertrieben, weil sie die Lehren aus einem Dutzend verlorener Aufstandsbekämpfungskriege in ehemaligen Kolonien zwischen 1954 und 1975 vergessen hatten: Frankreich in Algerien und Indochina, Großbritannien in Kenia, Zypern und Aden, Portugal in Angola und Mosambik und die USA in Vietnam. ... In den 1970er Jahren lehrten westliche Militärschulen künftige Kommandeure, dass westliche Armeen in der 'Dritten Welt' (wie es damals hieß) Guerillakriege immer verlieren würden, egal wie groß und gut ausgerüstet sie sind, weil die Aufständischen auf heimischem Boden kämpfen. Sie können nicht aufgeben und nach Hause gehen, weil sie zu Hause sind.“

The Irish Times (IE) /

Der Geldhahn ist abgedreht

Liquiditätsprobleme verschärfen Hunger und Armut im Land, bedauert Graham Davison von der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide in The Irish Times:

„Die Sanktionen haben den Geldtransfer durch das Bankensystem verlangsamt oder gestoppt. Trotz der Ausnahmen in humanitären Fällen, die die Lieferung von Hilfsgütern ermöglichen, zögern Banken und Unternehmen des privaten Sektors oft, Geschäfte zu machen - aus Angst, gegen Compliance-Vorschriften zu verstoßen. ... Verheerend wirkte sich zudem das Einfrieren von Milliardenvermögen der Da Afghanistan Bank aus. Dass sich das Land im finanziellen Würgegriff befindet, wirkt sich auch auf jene aus, die helfen wollen. Nichtregierungsorganisationen haben Mühe, Bankkonten zu eröffnen und Überweisungen zu tätigen.“

Daily Sabah (TR) /

Isolation ist der falsche Weg

Andere Länder sollten dem konstruktiven Beispiel der Türkei folgen, appelliert die regierungsnahe Tageszeitung Daily Sabah:

„Kein Staat hat die Taliban-Regierung anerkannt und das Land ist völlig vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Türkei ist hier eine Ausnahme. Während die Nato-Staaten und viele andere ihre diplomatischen Beziehungen zu Afghanistan abgebrochen haben, ist die Türkei das einzige Nato-Mitglied, das seine Beziehungen aufrechterhalten hat, was es zu einem Schlüsselland für Afghanistan macht. Dies ist die letzte Sauerstoffzufuhr, der Tunnel zur Welt. ... Isolation führt zu nichts. Im Gegenteil, sie isoliert Kinder, Frauen und unschuldige Menschen. Aus diesem Grund hat die Türkei positive Diplomatie betrieben.“

De Volkskrant (NL) /

Menschen nicht im Stich lassen

De Volkskrant erkennt ein teuflisches Dilemma:

„Wie kann man verhindern, dass Afghanen in Massen sterben, ohne das Regime zu stärken? Bis die Taliban zeigen, dass sie die Menschenrechte respektieren, selbstverständlich einschließlich die der Frauen, kann das Regime nicht von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden. Aber das heißt nicht, dass die Bevölkerung im Stich gelassen oder vergessen werden kann. In jedem Fall muss über nicht-staatliche Organisationen großzügige Hilfe geleistet werden. ... Für westliche Länder muss nun Priorität haben, den Vereinten Nationen unbedingt das bereits zugesagte Geld zu geben.“

Večernji list (HR) /

Armut und Verbote überall

Die Lebensumstände in Afghanistan haben sich unter den Taliban deutlich verschlechtert, so Večernji list:

„Die finanzielle, wirtschaftliche und humanitäre Krise, der sich Afghanistan ausgesetzt sieht, wird immer schlimmer. Die Zahl der in Armut lebenden Afghanen vergrößerte sich, nun leben 20 Millionen an der Grenze zum Hunger. Viele Menschen haben Schulden und Familien in prekären Lebensumständen sind gezwungen zu entscheiden, ob sie ihre Kinder oder ihre Organe verkaufen. Viele Scharia-Gesetze und Verbote gelten wieder und das Hören von Musik, Shisha-Rauchen und Kartenspielen werden in konservativen Regionen streng kontrolliert. Proteste werden erstickt, während Journalisten regelmäßig bedroht und verhaftet werden.“

The Spectator (GB) /

Trugbildern keinen Glauben schenken

Wer behauptet, die islamistischen Regenten seien nun liberaler als früher, macht sich etwas vor, klagt The Spectator:

„Dass es für Mädchen keine Bildung mehr gibt, ist das sichtbarste Zeichen der drastischen Veränderung in Afghanistan. Aktivisten haben insgesamt 30 verschiedene Einschränkungen gezählt, die nun das Leben von Frauen prägen. ... Die Vorstellung, dass die 'Taliban 2.0' irgendwie weniger restriktiv sein würden als bei ihrer Machtergreifung in den späten 1990er Jahren, war immer eine Fantasie ohne Grundlage. ... Es war ein beruhigendes Trugbild, insbesondere für die US-Präsidenten Trump und Biden, die Afghanistan verlassen und glauben wollten, sie hätten dessen Volk nicht verraten.“

ABC (ES) /

Wir brauchen diplomatische Beziehungen

ABC stellt zur Diskussion, ob man das Taliban-Regime anerkennen sollte:

„Der einzige Unterschied zu dem Afghanistan, das wir vor der Ankunft des westlichen Militärs kannten, ist wahrscheinlich der große Heldenmut von Tausenden von Frauen. ... Um ihnen und den vielen in bitterer Armut lebenden Afghanen zu helfen, sollte die internationale Gemeinschaft irgendwann die Debatte darüber eröffnen, ob es politisch vertretbar ist, die Taliban als rechtmäßige Machthaber anzuerkennen. … Ohne Anerkennung gibt es keine Möglichkeit, etwas auszuhandeln oder Botschaften zu eröffnen. Und ohne diplomatische Beziehungen gibt es keine Möglichkeit, den Afghanen zu helfen.“

De Standaard (BE) /

Ungeahnte globale Folgen

Der Abzug der USA aus Afghanistan vor einem Jahr hat eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, stellt der Publizist Gie Goris in De Standaard fest:

„Es verläuft eine Linie - wenn auch eine krumme - zwischen Kabul und Kyjiw, zwischen dem chaotischen Abzug aus Afghanistan und dem medienwirksamen Besuch in Taiwan, zwischen Gas, Weizen und fehlender Klimapolitik. ... Die optische Illusion der flüchtenden amerikanischen Armee hat vielleicht beigetragen zum Übermut des Kreml. ... Der russische Überfall auf die Ukraine forcierte eine Zweiteilung der Welt, in der die transatlantische Achse scharf abgegrenzt ist gegen die russisch-chinesische Achse. Der Rest der Welt weigert sich, Partei zu ergreifen, was ein erster Sieg der euroasiatischen autoritären Linie ist.“