Nato-Beitritt Schwedens: Was bedeutet Ankaras Ja?

Die Nachricht kam kurz vor Beginn des Nato-Gipfels in Vilnius am 11. Juli: Die Türkei gibt ihre Blockade gegen den Beitritt Schwedens zum Verteidigungsbündnis auf. Präsident Erdoğan erklärte nach einem langen Gespräch mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg, das Beitrittsprotokoll so bald wie möglich dem Parlament zur Ratifizierung vorzulegen. Kommentatoren beleuchten die Position der Türkei.

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El País (ES) /

Erdoğan hat keinen Respekt mehr vor Putin

El País sieht die Türkei klar auf Westkurs:

„Das Bündnis ist jetzt enger und viel stärker dank des strategischen Fundaments, das die Kontrolle über die gesamte skandinavische Halbinsel bietet. ... Erdoğan bewegt sich weg vom Kreml und hin zum Weißen Haus. ... Neben der Erlaubnis für Schweden hat er dem russischen Präsidenten noch ein paar unangenehme Überraschungen bereitet. Er hat fünf ukrainische Kommandeure freigelassen, die Putin auf Erdoğans Bitte hin überstellt hatte, um sie bis zum Ende des Krieges in der Türkei festzuhalten. Und er hat die Fortsetzung des Getreideverkehrs im Schwarzen Meer garantiert, wenn auch unter dem ausschließlichen Schutz der türkischen Flotte. Übersetzt aus dem Türkischen ins Russische: Er hat keinen Respekt mehr vor Putin.“

Sözcü (TR) /

Ihm blieb gar nichts anderes übrig

Erdoğan konnte Schweden nicht länger hinhalten, urteilt Sözcü:

„Jeder, der sah, in welchem Zustand die türkische Wirtschaft ist und dass sich Erdoğan politisch in einer festgefahrenen Situation befindet, konnte erkennen, dass seine während des Wahlprozesses gemachten Sprüche rein strategisch waren und er nach der Wahl genau das Gegenteil tun würde. Man hätte gesehen, dass die guten Beziehungen der Türkei zu den Golfstaaten und Russland die Türkei nicht ins Lot bringen können. Es war völlig klar, dass die langfristigen politischen und wirtschaftlichen Interessen der Türkei es erforderlich machen, auf der euroatlantischen Achse zu bleiben.“

Artı Gerçek (TR) /

Keine Zeit für EU-Träume

Das regierungskritische Portal Artı Gerçek hält es für einen schlechten Witz, dass Schweden helfen will, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu verbessern:

„In 2022 veröffentlichten Berichten unabhängiger internationaler Organisationen, die sich auf universelle Werte stützen, hat die Türkei in allen Bereichen einen Tiefpunkt erreicht. Die Türkei ist für die zivilisierte Welt, für die Liga der demokratischen Länder eine Schande, ein schlechtes Beispiel. In den Augen der Welt gehört sie zur Kategorie der Banden- und Schurkenstaaten. ... Der Traum von der Europäischen Union ist eine Arbeit für die Zeit nach Erdoğan. Schweden sollte das nicht vergessen.“

Hürriyet (TR) /

Jetzt kommt es auf Stockholm an

Die Einigung in letzter Minute ähnelt der Situation vor dem Nato-Gipfel 2022, erinnert sich die Hürriyet:

„In den Erklärungen Ankaras wurde eindringlich betont, dass Schweden seinen Verpflichtungen aus dem Madrider Abkommen vom vergangenen Jahr bis zum letzten Moment nicht nachgekommen sei. Andererseits hat Ankara trotz aller negativen Aussagen mit der am Vorabend überraschend verkündeten Einigung eine erhebliche Flexibilität gezeigt. Waren diese Austritte letztendlich taktische Schritte, um den Druck auf Schweden zu erhöhen? ... Oder kam man zu dem Schluss, dass es angemessener wäre, die Angelegenheit zu lösen? ... Die Frage ist, ob die schwedische Regierung in der Praxis weitere Schritte zur Zufriedenheit Ankaras unternehmen wird.“

Handelsblatt (DE) /

Deal nützt vor allem dem Westen

Stoltenberg ist ein diplomatischer Geniestreich gelungen, stellt der Türkei-Korrespondent des Handelsblatts, Ozan Demircan, fest:

„Er hat nicht nur Schweden in die Nato geholt. Der Nato-Generalsekretär hat darüber hinaus Erdogan, der mindestens fünf weitere Jahre die Türkei regieren wird, wirkungsvoll an den Westen gebunden. Niemand muss dabei fürchten, dass die Türkei morgen das bevölkerungsmäßig größte EU-Mitglied wird. Brüsseler Mühlen mahlen langsam. ... Was der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, vor dem Durchbruch Erdogan versprochen hatte [Möglichkeiten einer engeren Kooperation], steht seit Ende Juni längst in einem Protokoll des Rates. ... Am Ende bringt die Übereinkunft mit Erdogan sowohl der Nato als auch der EU viel mehr als Erdogan.“

Le Soir (BE) /

Ankara hat unentbehrliche Brückenfunktion

Die Türkei hat sich zu einem zentralen Akteur gewandelt, beobachtet Le Soir:

„An Ankara führt nun kein Weg mehr vorbei, auch weil es eine der wenigen Hauptstädte (wenn nicht die einzige) ist, der es gelang, die Rolle als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine zu spielen. Wir erinnern uns insbesondere an das Getreideabkommen (das in Kürze ausläuft) zwischen Moskau und Kyjiw, das dazu dient, eine Hungersnot in den schwächsten Ländern zu verhindern. Dieses Abkommen wurde in der Türkei vereinbart (unter Schirmherrschaft der UN). Der Krieg in der Ukraine ist noch lange nicht zu Ende. Und dieser wichtige militärische Partner der Nato hat noch viele Züge zu machen.“

La Repubblica (IT) /

Der Albtraum des Kremls

Die Ostsee wird zum Nato-Binnengewässer, analysiert La Repubblica:

„Alle Zugänge zu St. Petersburg werden von atlantischen Ländern kontrolliert. Der schlimmste Albtraum für den Kreml. Zudem sind die vom [schwedischen Oberbefehlshaber] General Micael Bydén geführten Streitkräfte zwar klein, genießen aber hohes Ansehen. Sie sind voll mechanisiert und verfügen über 120 Leopard-2-Panzer und 500 CV90-Panzer nationaler Bauart. … Die Luftwaffe verfügt über fast hundert Kampfflugzeuge des Typs Saab Jas 39 Gripen und die Marine über drei Gotland-U-Boote und sieben Fregatten, von denen fünf als Tarnkappenboote konzipiert sind. Die einheimische Rüstungsindustrie baut und exportiert alles: Raketen, Flugzeuge, Kanonen, Schiffe, gepanzerte Fahrzeuge. Und das Land ist führend in der Cybertechnologie.“

Politiken (DK) /

Enormer Fortschritt

Politiken erläutert die Tragweite der Entscheidung, auch für Dänemark:

„Schwedens Nato-Mitgliedschaft ist ein gewaltiger geopolitischer und militärischer Fortschritt sowohl für den Westen als auch für die nordischen Länder und Dänemark. Anstatt ein Frontland gegen Russland in der Ostsee zu sein, wird Dänemark auf den neuen militärisch-strategischen Karten und auf den politischen Positionen eine neue Form von Hinterland darstellen. ... Die Tatsache, dass die Nato ihre Verteidigungslinie gegen Russland genau auf dem von der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg besetzten litauischen Boden vervollständigt, beinhaltet eine eigene symbolische Erzählung. Eine Geschichte, die den Glauben nährt, dass Freiheit über Zwang, Demokratie über Autokratie, Gemeinschaft über Isolation siegen wird.“

Pravda (SK) /

Ein Kick für Vilnius

Die Türkei hat mit ihrer Zustimmung für einen guten Start des Gipfels gesorgt, findet Pravda:

„Präsident Erdoğan entschied, das Beste aus seiner Position gemacht zu haben und gab der schwedischen Mitgliedschaft seinen Segen. Damit wird die Nato als Garant unserer Sicherheit durch die hervorragende Armee und Flotte des nordischen Löwen gestärkt. Der Nato-Gipfel bekam so einen positiven Impuls. Die Frage ist, wie sich daraus eine gemeinsame Haltung gegenüber der Mitgliedschaft der Ukraine entwickeln wird. ... Mit deren Beitritt nach Kriegsende würden wir einen nachhaltigen Frieden erreichen“

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El Periódico de Catalunya (ES) /

Mehr Abschreckung und ein Ass im Ärmel

El Periódico de Catalunya zieht eine positive Bilanz des ersten Gipfeltages:

„Es gibt zwar keinen ukrainischen Beitritt, aber die Nachricht, dass das Veto der Türkei aufgehoben wurde, war die wichtigste Nachricht des Gipfels. ... Erdoğan tat dies nicht aus Altruismus: Die Bereitschaft Washingtons zur Modernisierung seiner F16-Flotte, grünes Licht zum Kauf neuer Flugzeuge, die Unterzeichnung eines bilateralen Sicherheitspakts mit Schweden und die koordinierte Terrorismusbekämpfung innerhalb der Nato. ... Die Nato hat so die Verteidigung durch Abschreckung in der euro-atlantischen Region verbessert, und dabei ein Ass im Ärmel behalten: Die Mitgliedschaft der Ukraine, die sie je nach Fortgang des Krieges als Druckmittel einsetzen kann.“

La Libre Belgique (BE) /

Erdoğans letzter Schachzug

Letztendlich ging alles gut aus, beobachtet La Libre Belgique:

„Es wurde befürchtet, dass Erdoğan eine neue Runde mit surrealen Forderungen eröffnen würde und dass er die Nato-Erweiterung - und damit die Einheit der Nato - in einem wichtigen Moment der Geschichte untergraben würde. Doch letztendlich wird es die letzte Episode der Erdoğan-Show gewesen sein – was übrigens auch die bevorzugte Version von Olaf Scholz und Jens Stoltenberg war, die am Montag optimistisch waren, dass die Verhandlungen positiv verlaufen würden. Ankara hat die Nato und Schweden in Atem gehalten und in letzter Minute auch ein positives Signal von der EU erhalten.“

Aftonbladet (SE) /

Schweden muss Schweden bleiben

Stockholm solle trotz anstehenden Nato-Beitritts weiter für Abrüstung eintreten, meint Aftonbladet:

„Wir müssen weiterhin eine Stimme für die Nichtverbreitung von Atomwaffen und für neue Abkommen sein, die die vorhandenen Atomwaffen begrenzen. Wir müssen weiterhin eine Stimme für Diplomatie, Verhandlungen in internationalen Konflikten und Präventionsarbeit sein. Wir müssen anderen helfen, sowohl in akuten Krisen als auch langfristig, und uns für einen gerechteren Handel einsetzen. Und wir müssen für das Richtige eintreten, für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Rechte von Minderheiten. Schwedens Stimme in der Nato darf nicht zum Schweigen gebracht werden.“