Corona und die Kluft zwischen Alt und Jung

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Diskussionen um die Lockerung der Maßnahmen geraten zum Generationenkonflikt: Auf der einen Seite steht die Gesundheit der Alten und Schwachen, auf der anderen das Wohlergehen und die wirtschaftliche Existenz der Jüngeren. Europas Medien sehen darin ein schwer zu lösendes moralisches Dilemma.

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Jyllands-Posten (DK) /

Ballast für die Gesellschaft?

Der Pfarrer Preben Brock Jacobsen fürchtet in einem Gastbeitrag für Jyllands-Posten, dass die bislang in der Corona-Krise gezeigte Solidarität bald ins Gegenteil umschlagen könnte:

„Das Gemeinschaftsgefühl ruht auf einem brüchigen Fundament. ... Schon fragt manch einer: Ist es richtig, die Rücksicht auf Alte und Verletzliche zur obersten Priorität unserer Corona-Strategie zu machen? Ist es nicht naiver Glaube an den Wohlfahrtsstaat, wenn wir meinen, wir könnten enorme Beträge für die Alten ausgeben, die 'ökonomisch unproduktiv' sind? Wie viel ist eigentlich ein Mensch, insbesondere ein alter Mensch, wert? Kann es zu teuer werden? ... Wenn wir vergessen, dass alle Menschen den gleichen Wert haben, dann verlieren wir jenes Dänemark, das sich bis jetzt von seiner besten Seite gezeigt hat.“

Eesti Rahvusringhääling (ERR Online) (EE) /

Gesundheitsschutz ist nicht alles

Ob der Schutz der Gesundheit es wirklich wert ist, andere fundamentale Bedürfnisse unterzuordnen, zieht der Philosoph Francesco Orsi von der Universität Tartu auf Eesti Rahvusringhääling in Zweifel:

„Auf Italienisch gibt es den Spruch: 'quando c'e la salute, c'e tutto'. Solange man gesund ist, hat man alles. ... Es wird jetzt klar, dass dieses Sprichwort falsch ist. ... Die Gesundheit der meisten mag geschützt sein, aber der Preis ist der Verlust vieler wichtiger Dinge. Auch scheint das Glücksgefühl durch den Schutz der Gesundheit nicht zu steigen. Eher hat die Quarantäne viele Menschen unglücklich und damit jegliches Glücksgefühl zunichte gemacht. ... Die ethischen Überlegungen angesichts der Corona-Krise führen zu einer überraschenden Feststellung: Gesundheit ist nur ein Mittel, kein Wert an sich. Daher gibt es auch keine Rechtfertigung, andere Werte für sie zu opfern.“

Maszol (RO) /

Es gibt keine richtige Lösung

Die Diskussion um die Lockerungen der Corona-Auflagen erinnern Maszol an ein bekanntes Gedankenexperiment:

„Diejenigen, die in erster Linie Menschen retten wollen, halten es für zynisch, dass Menschenleben für Wirtschaftsinteressen geopfert werden. Diejenigen, die für einen Neustart der Wirtschaft sind, argumentieren damit, dass auch ein Zusammenbruch der Wirtschaft Menschenleben kostet. ... Beide haben auf ihre Weise Recht. ... Voraussichtlich wird es zu einer Kompromisslösung kommen: Bestimmte Auflagen werden weiterhin in Kraft bleiben. So verlieren Wirtschaftsmaßnahmen an Effektivität, um Menschenleben retten zu können. Unterdessen werden die Lockerungen, die der Wirtschaft zugutekommen, vermutlich Menschenleben kosten. ... Wir stehen hier einem ethischen Problem gegenüber: dem Straßenbahn-Dilemma - 'trolley problem' -, das die britische Philosophin Philippa Foot 1967 aufwarf.“

Le Figaro (FR) /

Senioren nicht die Lust am Leben nehmen

Rentner bis Jahresende zu isolieren, wäre ein unzulässiger Eingriff in ihre Freiheit, kritisiert der 77-jährige Autor und ehemalige hochrangige Beamte Patrice Cahart in einem von Le Figaro veröffentlichten offenen Brief an Ursula von der Leyen:

„Sie haben einen Doktortitel in Medizin, Sie waren Ärztin auf einer Geburtsstation. ... Aber wie Sie wissen, beschränkt sich Gesundheit nicht auf Medizin. Sie umfasst auch die Lebensqualität und die Beziehungen zu anderen. Neun Monate oder gar ein Jahr lang könnten ältere Menschen ihre Kinder, ihre Enkelkinder und Freunde nicht mehr sehen. Sie wären darauf beschränkt, mit ihnen über technische Geräte zu kommunizieren, mit denen die meisten von ihnen kaum klarkommen. Man will sie retten, indem man ihnen die Lust am Leben nimmt. … Die älteren Leute sind keine Kinder, die ihre Interessen nicht abzuwägen wissen. Sie sind keine Bürger zweiten Ranges.“

The Irish Times (IE) /

Unter 35-Jährige wieder arbeiten lassen

Der Lockdown sollte tatsächlich für jüngere Menschen aufgehoben werden, fordert dagegen Kolumnist David McWilliams in The Irish Times:

„Junge Menschen werden schlechter bezahlt als andere, und viel mehr von ihnen haben ihre Arbeitsplätze verloren, weil sie überproportional im Einzelhandel, im Gastgewerbe, in Bars und in Restaurants beschäftigt sind. Sie sind jedoch weitgehend frei von der Krankheit. Sie werden also bestraft, obwohl sie gesund sind. Natürlich können sie Träger des Virus sein, und wir müssen ältere Menschen schützen. Aber warum entlassen wir nicht jene Menschen unter 35 Jahren wieder aus dem Lockdown, die nicht bei ihren Eltern leben? Sie müssen ihr Leben wieder auf Schiene bringen und die Möglichkeit haben, eine wunderbar lebendige, junge Wirtschaft zu schaffen, während der Rest von uns eingesperrt bleibt.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Generationengerechtigkeit wiederherstellen

In Folge der Corona-Krise müssten die sozialen Sicherungssysteme angepasst werden, fordert Walter Schmid, Professor für soziale Arbeit und Recht, in der Neuen Zürcher Zeitung:

„Mit aller Macht wirft diese Krise insbesondere die Frage nach der Generationengerechtigkeit auf. Die Jungen werden heute aufgefordert, sich mit den Alten solidarisch zu zeigen, um deren Überlebenschancen zu verbessern. ... Sie werden die enormen Kosten der jetzigen Massnahmen noch über Jahre hinaus zu tragen haben, spätestens, wenn die Schulden in den Sozialversicherungen und den Staatshaushalten wieder abgebaut werden müssen. Mit Blick auf die seit Jahrzehnten blockierten Reformen der Altersvorsorge könnte dies bedeutsam werden. Die ältere Generation, die eh schon den weitaus grössten Anteil aller Vermögen besitzt, muss bereit sein, vom Besitzstandsdenken ein Stück abzuweichen und der jüngeren Generation entgegenzukommen.“

De Standaard (BE) /

Aufeinander hören, voneinander lernen

Zusätzlich zur Klimakrise verschärft die Coronakrise die Kluft zwischen Jung und Alt, warnt die 24-jährige Journalistin Charlotte Wollaert in De Standaard:

„Viele Millennials dachten zu lange, dass das Coronavirus ihnen nicht schadet. Und viele Boomer sagen, dass der Klimawandel keine Folgen für sie haben wird – weshalb sie ihr Verhalten nicht ändern. ... Aber Millenials wie Boomer liegen falsch. Beide Krisen treffen uns alle, ob nun gesundheitlich oder finanziell. Und beiden Krisen können wir nur die Stirn bieten, indem wir zusammenarbeiten. ... Können wir nicht versuchen, die mentale Kluft zu verkleinern? In Krisenzeiten ist es wichtiger denn je, aufeinander zu hören, voneinander zu lernen und einander zu respektieren, auch wenn wir einander nicht immer verstehen.“

Népszava (HU) /

Die Krise schweißt zusammen

Gábor Miklós, Journalist bei Népszava, gehört zur Boomer-Generation und zeigt sich sichtlich bewegt von der Hilfsbereitschaft, die ihm in diesen Tagen entgegengebracht wird:

„Vielleicht irre ich, aber ich habe den Eindruck, dass auf mich aufgepasst wird. Sogar unbekannte Menschen kümmern sich um mich. Ich bin von Natur aus misstrauisch. Doch ich vertraue den Menschen, dass ihre Aufmerksamkeit nicht vorgetäuscht ist, sondern ernst gemeint. ... Vielleicht formt die Pandemie die jungen und alten Menschen, die gleichzeitig hier leben, zu einer 'Generation' – und dies sogar auf der ganzen Welt?. ... Zum ersten Mal, seit Ungarn diese Regierung hat, will die Regierungspropaganda nicht nur verbieten, unterweisen, Hass schüren, stigmatisieren und Angst machen, sondern ruft auch zu Aufmerksamkeit und Fürsorge auf. Wer weiß, vielleicht bleibt von dieser Haltung auch später etwas übrig.“

NV (UA) /

Moral wie im Mittelalter

Olga Guzal, Chefin der Firma Camion Oil, ist in NV entsetzt, dass viele Menschen in der Diskussion über die Folgen der Corona-Pandemie immer noch abwiegeln:

„Wer werden wir sein, wenn das alles vorbei ist? … Heute kommt uns Vieles leicht über die Lippen. Die Sterblichkeit sei gering, sie liege ja nur bei zwei Prozent. ... Wir ärgern uns über zu drastische Maßnahmen. ... Vor drei Monaten haben wir noch die Ernährungstipps von Japanern verschickt, die bis zu 112 Jahre alt geworden sind. ... Und jetzt sagen wir, wenn auch leise, dass es doch kein großes Problem gebe. Denn all das betreffe ja nur die Alten und die Kranken. Habt Ihr wirklich zugehört? Wir leben mit einer Wirtschaft aus dem 21. Jahrhundert, mit einer Wissenschaft aus dem 22. Jahrhundert und mit einem Moralverständnis aus dem 16. Jahrhundert.“

Dagens Industri (SE) /

Den Jungen wird die Zukunft verbaut

Die Coronakrise wird auf dem Rücken der jungen Generation ausgetragen, warnt Dagens Industri:

„Ein übermäßiger Teil der Arbeit zur Seuchenbekämpfung wird zurzeit von den Jungen getragen, während es mehrere Beispiele dafür gibt, dass Personen über 70 den Rat zur Isolation in den Wind schlagen. Die Lösung kann nicht sein, dass Risikogruppen nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, während die Zukunft der Jugend durch die Fahrt in eine wirtschaftliche Depression verbaut wird. Was für eine Zukunft wird denn im Frühsommer 2020 und in den nächsten Jahren besungen werden – gibt es da dann Jobs? Gibt es Zuversicht? Die Politiker müssen es sich zur Hauptaufgabe machen, dass auf die junge Generation nicht Massenarbeitslosigkeit und ein verlorener Sozialstaat warten. Nicht nur die ältere Generation ist bedroht.“