Zweite Welle: Keine Zeit mehr für Diskussionen?

Angesichts stark steigender Corona-Infektionszahlen haben viele Regierungen wieder strengere Eindämmungsmaßnahmen angeordnet. Während viele Pressestimmen es angesichts der ernsten Lage inzwischen nicht mehr angemessen finden, über Sinn und Akzeptanz von Maßnahmen zu diskutieren, ärgern sich andere über widersprüchliche Regelungen.

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De Tijd (BE) /

Geschlossene Kneipen sind das kleinere Übel

Die Belgier sollten nicht darüber jammern, dass Cafés und Restaurants geschlossen wurden, findet De Tijd:

„Das große Schreckensszenario ist ein neuer allgemeiner Lockdown, wie im Frühjahr. ... 'Außer Arbeit wird alles verboten', prangt seit Freitagnacht als Graffiti an der Brüsseler Börse. Das stimmt nur zum Teil. ... Es gibt noch immer Zwischenschritte, bevor wir beim äußersten Not-Szenario landen: die Schulen schließen und die Mehrheit der Betriebe still legen. ... Jeden Tag wird die Frage drängender, welche Zwischenschritte wir gehen können, um eine Wiederholung zu vermeiden. Und die Frage, ob es nicht übertrieben war, aus Belgien ein Land ohne Kneipen und Restaurants zu machen, wird immer irrelevanter.“

Lidové noviny (CZ) /

Bei Verweigerern helfen nur Strafen

Lidové noviny rät der tschechischen Regierung, auf verstärkte Ablehnung nicht einzugehen:

„Was wird die Regierung tun, wenn ein Teil der Bürger darüber nur noch lacht und mit der Mentalität von Schwarzfahrern das Gesundheitssystem zum Kollaps treibt? Wartet die Regierung vielleicht darauf, dass die Menschen von den Bildern überfüllter Krankenhäuser so erschreckt werden, dass sie die Regeln endlich ernst nehmen? Nein, es hat keinen Sinn, zu warten und Rücksicht auf Verweigerer zu nehmen. Die Unterordnung unter die Regeln hat eine Selbstverständlichkeit zu sein, Übertretungen sind zu bestrafen. Ohne Disziplin und gegenseitige Rücksichtnahme geht es nicht.“

Dagens Nyheter (SE) /

Schweden verwechselt Autorität mit Unterdrückung

Hinter der vergleichsweise liberalen Pandemiebekämpfung in Schweden könnte laut Dagens Nyheter ein grundsätzliches nationales Missverständnis stehen:

„Kann der Mangel an kraftvollem Handeln in Schweden damit zu tun haben, dass Autorität so oft als autoritär fehlinterpretiert wird? Als wäre der einzige Grund, entschlossen und verantwortungsvoll zu agieren, dass man harte Bandagen gut findet und Freiheit, Unordnung und vielleicht sogar Demokratie ablehnt. ... Die zuständigen Politiker und Behördenvertreter fürchten unbequeme Beschlüsse zum Wohle aller; richtig einzugreifen könnte ja als autoritär aufgefasst werden. ... Und gewiss, es kann miese Stimmung aufkommen, wenn man die Starken und Gesunden daran hindert, sich auf Kosten der Schwächeren Freiheiten herauszunehmen. ... An mieser Stimmung ist allerdings im Gegensatz zu Covid-19 bisher niemand gestorben.“

Maszol (RO) /

Theater mit dem Theater

Maszol findet einige Corona-Maßnahmen absurd:

„Neuerdings kann man das auf stilvolle Art und Weise auch im Theater erfahren, dank Kulturministerium, das auf die Idee gekommen ist, dass eine Vorstellung im Innenraum maximal zwei Stunden dauern darf. ... Bisher habe ich noch nie ein Forschungsergebnis gelesen, das beweist, dass es erst ab der 121. Minute gefährlich wird, sich im gleichen Luftraum mit einem Corona-Infizierten aufzuhalten. ... Das jüngere Publikum, falls es [in der Pause] keine Lust zu einem Spaziergang in der kühlen Nacht hat, kann stattdessen ein Bier nebenan trinken. In der Kneipe, anders als im Theater, gilt natürlich weder Maskenpflicht noch eine Zwei-Stunden-Beschränkung.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Beschwichtigung fördert Sorglosigkeit

Ohne klare Ansagen der Politik werden Schutzmaßnahmen nur halbherzig umgesetzt, erläutert der Tages-Anzeiger:

„Paradoxerweise wird ... ein Lockdown umso wahrscheinlicher, je mehr sich die Botschaft, dass es ihn sicher nicht geben werde, in den Köpfen festsetzt. Ohne die erklärte und realistisch begründete Perspektive flächendeckender Schliessungen werden Restaurants und Gewerbebetriebe ihre Schutzkonzepte tendenziell weniger konsequent durchsetzen, werden sich Bürgerinnen und Bürger im Alltag nachlässiger verhalten. Dabei müsste jetzt alles getan werden, um die Explosion der Fallzahlen zu beenden. ... Nötig ist, dass ... jetzt endlich Klartext geredet wird. ... Es geht nicht darum, den Menschen Angst einzujagen. Wer indes einen Lockdown kategorisch ausschliesst, macht sich schlicht der Irreführung schuldig.“

La Stampa (IT) /

Die Spanische Grippe bitte aus dem Spiel lassen

Vergleiche zwischen der heutigen Pandemie und der Zeit von 1918 bis 1920 zu ziehen, als die Spanische Grippe 20 bis 50 Millionen Todesopfer forderte, ist unzulässig, konstatiert La Stampa:

„Die zweite Welle der Spanischen Grippe war schlimmer als die erste, weil etwas Unerwartetes geschehen war: eine Mutation des Virus, das sich unter den besonderen Bedingungen des Krieges mit der Vogelgrippe kombinierte. Darauf sind die katastrophalen Verluste der zweiten Welle zurückzuführen, der 'größte medizinische Holocaust aller Zeiten'. ... Das Sars-Cov-2-Virus aber hat sein Erscheinungsbild nicht verändert. Es hat sich nicht mit Tierviren kombiniert, es ist weder schwächer noch stärker als im Frühjahr, sagen Virologen und Infektiologen. ... Die Befürchtung, dass diese Welle von Covid-19 schlimmer sein könnte als die erste, kann folglich nicht auf dem Vergleich mit der Spanischen Grippe fußen.“

The Daily Telegraph (GB) /

Kranke trauen sich nicht mehr in Behandlung

Der Fokus auf Covid-19 raubt den Gesundheitssystemen die Kapazität, sich um Opfer anderer Leiden zu kümmern, klagt The Daily Telegraph:

„Nie zuvor gab es eine stärkere und gleichzeitig tückischere Botschaft als 'Bleib zu Hause, schütze den [Nationalen Gesundheitsdienst] NHS, rette Leben'. Ob von der Regierung beabsichtigt oder nicht, schärfte uns dieser Slogan ein, dass Krankenhäuser Orte für Menschen mit Covid-19 sind, aber nicht für lästige Zeitverschwender mit einem Stechen, mit Schmerzen oder ungewöhnlichen Knoten. Das Ergebnis? Während Krankenhäuser mit Covid-19 zurechtkamen, wurde die Saat für zukünftige Epidemien von Krebs bis zu anderen schweren Erkrankungen gestreut.“

Népszava (HU) /

Behörden verspielen Vertrauen

Népszava vermisst wissenschaftliche Begründungen für bestimmte Corona-Maßnahmen:

„Auf welcher Grundlage wird das Formel 1-Rennen am Hungaroring als gefährlich eingestuft, die [Fußballspiele in der] Puskás Aréna hingegen aber als ungefährlich? ... Auf politischer oder sportpolitischer Grundlage? Wenn das der Fall ist, dann wäre es schön, zu wissen, wer eigentlich in den Fragen der Pandemiebekämpfung im Namen des Gesundheitsamtes Entscheidungen trifft. ... In Ermangelung fachlicher Argumente kann man leicht zur Schlussfolgerung kommen, dass das Gesundheitsamt inkonsequent und widersprüchlich handelt, und auch selbst nicht weiß, was es macht. Damit kann es aber auch das restliche Vertrauen der Bevölkerung verspielen.“

Rzeczpospolita (PL) /

Jeder einzelne muss für seine Gesundheit sorgen

Da der Staat es nicht mehr schafft, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, fordert Rzeczpospolita Eigenverantwortung von den Bürgern:

„Die Ineffizienz der Gesundheitsdienste ist ein Zeichen dafür, dass unser System zusammenbricht. Die Infizierten fallen immer häufiger durch dieses System und bleiben nicht mehr unter der Kontrolle des Staates, der eigentlich über die Gesundheit der Bürger wachen sollte. ... Zählen Sie nicht mehr auf den Staat, seine Beamten, Inspektoren, Politiker und diensthabenden Experten, weil diese das Virus nicht aufhalten werden! Es ist Zeit, auf sich selbst zu zählen, denn nur so kann man das Virus von seinem eigenen Zuhause, seinem eigenen Geschäft fernhalten. Niemand wird besser für sich und die Sicherheit seiner Lieben sorgen als wir selbst.“