9/11: Die Wunde schmerzt, die Gefahr bleibt

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 jähren sich zum zwanzigsten Mal. Zusammen mit der Reaktion der USA und anderer westlicher Staaten gelten sie als eine Zeitenwende mit gravierenden Folgen. Viele Beobachter beschreiben zum Jahrestag vor allem offene Wunden. Ihnen zufolge hat der Westen es weder geschafft, die Anschläge vor Gericht ausreichend aufzuarbeiten, noch die Gefahren des Dschihadismus zu bannen.

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Tygodnik Powszechny (PL) /

Der Traum ist geplatzt

Tygodnik Powszechny blickt nostalgisch auf die Zeit der Jahrtausendwende zurück:

„Die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts war einfach unbeschreiblich schön. Der Staub des Kalten Krieges hatte sich gelegt. Polen und seine Nachbarn waren bereits in der Nato und dabei, die Integration in die EU zu vollenden. Die Aufräumarbeiten nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien neigten sich dem Ende zu. Man war zufrieden mit der Stabilität des postsowjetischen Raums und den prowestlichen Reformen des jungen Präsidenten Putin. Der Aufstieg der Mittelschicht in China, dem Pfeiler der künftigen Demokratie, wurde mit Spannung erwartet. Die Welt wurde reich, amüsierte sich und blickte kühn in die Zukunft, die wie die Gegenwart sein sollte - in den Worten von Francis Fukuyama, der das 'Ende der Geschichte' vorhersagte. Ein Ende, das den alternativlosen Sieg der liberalen Demokratie bringen sollte.“

TVXS (GR) /

Eine neue Ära der Barbarei

Spyros Danellis, TVXS-Kolumnist und Links-Politiker, erkennt eine vertane Chance:

„Die Anschläge waren ein schmerzhaftes Erwachen für die öffentliche Meinung in den USA und allen westlichen Gesellschaften, die es für selbstverständlich und legitim hielt, militärische Operationen in der Golfregion, Jugoslawien, Afghanistan Tschetschenien oder Zentralafrika im Fernsehen zu verfolgen. Doch dieses Erwachen trug nicht dazu bei, das menschliche Leben als unantastbar neu zu definieren. Im Gegenteil, die Besetzung Afghanistans, der Zerfall des Irak, der Bürgerkrieg in Syrien, der Arabische Frühling und alles, was darauf folgte, insbesondere die Auflösung Libyens, führten unsere unruhige Welt in eine neue Ära der Barbarei.“

Wiener Zeitung (AT) /

Das Jahrhundert des Terrorismus ist ein langes

9/11 hat eine Zeitenwende eingeleitet, erklärt Historiker Dieter Reinisch in einem Gastkommentar für die Wiener Zeitung:

„Man kann den 11. September 2001 als eigentlichen Beginn des 21. Jahrhunderts betrachten. ... Die Welt stand im Schock, doch ahnte da noch kaum jemand, wie sehr die Ereignisse dieses Tages die folgenden Jahrzehnte beeinflussen würden. ... Mit der Einschränkung der Bürgerrechte und dem schrittweisen Aufbau verstärkter staatlicher Überwachung etablierte sich ein Angstszenario. Diese Furcht vor Terroranschlägen wird politisch instrumentalisiert. ... Das wird auch in Zukunft so sein - das 'Jahrhundert des Terrorismus', das vor 20 Jahren begonnen hat, wird kein kurzes Jahrhundert sein.“

La Repubblica (IT) /

Radikale Islamisten heute noch gefährlicher

Mit dem 11. September 2001 begann der globale Dschihadismus, den der Westen bis heute nicht besiegt hat, klagt Chefredakteur Maurizio Molinari in La Repubblica:

„Zwanzig Jahre später ist diese Terroroffensive nicht nur immer noch in vollem Gange, sondern spürt sie auch den Wind in ihren Segeln: von den Straßen Kabuls über die Dünen der Sahelzone bis hin zum Gerichtssaal in Paris. Sie zwingt uns alle, wachsam zu bleiben. ... Der Dschihadismus ist eine extremistische Ideologie, die den Inhalt des Korans entstellt, um sich selbst zu legitimieren, die Modernität ablehnt, an Gewalt glaubt und die Herrschaft zunächst über alle Muslime und dann über den gesamten Planeten anstrebt, indem sie die 'Abtrünnigen' eliminiert und die 'Ungläubigen' unterwirft, um ein Kalifat zu errichten, in dem Frauen als Beute behandelt werden.“

El País (ES) /

Guantánamo schließen

Infolge der Anschläge wurde der US-Marinestützpunkt in der kubanischen Guantánamo-Bucht um das berüchtigte Gefangenenlager erweitert. Die Häftlinge dort müssen endlich freigelassen oder der gewöhnlichen Justiz überstellt werden, fordert Journalist Lluís Bassets in El País:

„Es stimmt, dass sich unter den restlichen Insassen so gefährliche Terroristen befinden wie die, die gerade eine Regierung in Kabul gebildet haben. Doch noch schlimmer, als sie laufen zu lassen, wäre es, sie nach fast 20 Jahren ohne Prozess weiter eingesperrt zu halten. ... Nicht nur, weil dies eine Frage der Gerechtigkeit ist, sondern auch, weil es um eine Folge des globalen Kriegs gegen den Terrorismus geht. Will Washington damit beginnen, das verlorene Vertrauen und Prestige zurückzugewinnen, sollten sich zum 20. Jahrestag der Eröffnung des Gefangenenlagers im Januar keine Häftlinge mehr in Guantánamo befinden.“

Ria Nowosti (RU) /

Warum wird das Gerichtsverfahren so lange verschleppt?

Ria Nowosti kritisiert, dass erst jetzt in Guantanamo die Voranhörungen beginnen für einen Prozess gegen Khalid Scheich Mohammed, mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge:

„Es ist eine erstaunliche Nachricht: Der Mensch, den die US-Behörden für den Organisator des bekanntesten Terrorakts der Welt halten, ist bis heute nicht verurteilt. Dabei sitzt er seit 2003 in US-Gefängnissen. ... Jetzt läuft die Voranhörung, aber niemand garantiert, dass danach ein normaler Prozess beginnt. ... Mohammed hängt seit fast 20 Jahren in einem rechtsfreien Fegefeuer fest. Man möchte sich nicht in Verschwörungstheorien ergehen - aber warum zieht die US-Führung den Prozess gegen den Organisator von 9/11 so hinaus?“

Expresso (PT) /

Vergeblicher Versuch, Zeit zu gewinnen

Der 11. September 2001 bleibt die offene Wunde dieses Jahrhunderts, befindet Expresso:

„Der von Bin Laden befohlene Angriff hat in diesem Jahrhundert eine Entwicklung eröffnet, die nie zu Ende ging. Zeit zu gewinnen war deshalb nicht mehr als ein frommer Wunsch. Der 20. Jahrestag konfrontiert uns mit vielen alten Problemen. Afghanistan fällt ins Jahr 2001 zurück, die USA wenden sich selbst und dem Pazifik zu, Guantánamo stellt weiterhin die Idee von Gerechtigkeit in Frage, die Kontrolle der Bürger durch die Staaten ist uneingeschränkt, die Angst vor einer Welle muslimischer Geflüchteter bedroht die europäische Politik. Wir haben versucht, Zeit zu gewinnen, aber die Zeit hat gewonnen.“

The Irish Times (IE) /

Bin Laden hat gewonnen

Die Reaktion der USA auf die Terrorakte hat letztlich viel mehr Schaden angerichtet als die Anschläge selbst, zieht Kolumnist Fintan O'Toole in The Irish Times verbittert Bilanz:

„Dem Terror vom 11. September fielen 2977 Menschen zum Opfer - eine erschreckend hohe Zahl. Doch durch die dadurch ausgelösten Kriege wurden 801.000 Menschen direkt getötet und deutlich mehr indirekt. 38 Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Die USA haben 6,4 Billionen Dollar (5,4 Billionen Euro) ausgegeben, um all das zu erreichen. Dies ist sicherlich mehr, als Osama bin Laden in seinem fanatischen Herzen jemals zu träumen gewagt hätte. Die große Tragödie für die Hinterbliebenen und die Überlebenden des 11. Septembers 2001 besteht darin, dass bin Laden tatsächlich gewonnen hat.“

The Daily Telegraph (GB) /

Einmischung in der Region hat alles verschlimmert

Die USA hätten sich viel eher zurückziehen sollen, analysiert Kolumnist Tim Stanley in The Daily Telegraph:

„Es hätte sinnvoll sein können, die Sicherheitsmaßnahmen in den USA zu erhöhen und Osama bin Laden aufzuspüren und gefangenzunehmen. Gleichzeitig hätte die US-Politik neu ausgerichtet werden können, um sich aus der Region zurückzuziehen. ... Stattdessen haben die USA das Gegenteil gemacht. In stabilen Diktaturen wurden Regime gestürzt, wodurch ein Vakuum geschaffen wurde, das Terroristen füllen konnten. Foltervorwürfe gegen die USA bescherten deren Feinden Propagandaerfolge. Wenn Amerika seine Stellung als dominierende globale Macht verloren hat, dann nicht, als es sich aus Afghanistan zurückzog, sondern als es sich mit aller Gewalt in die Region hineindrängte.“