Nord Stream 2: Vorerst fließt kein Gas

Die Inbetriebnahme der im September fertiggestellten Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 verzögert sich. Die Bundesnetzagentur hat das Zertifizierungsverfahren vorläufig ausgesetzt, weil der Betreiber "in einer Rechtsform nach deutschem Recht organisiert" sein müsse. Europas Presse ist gespalten: Ist dies eine reine Formalie oder nutzt Berlin die Chance für eine Kehrtwende?

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Polityka (PL) /

Deutschland braucht die Energie

Eine Kehrtwende bahnt sich dadurch nicht an, stellt Polityka klar:

„Wer hofft, dass NS2 dauerhaft stillgelegt wird, der irrt. ... Deutschland ist besonders an russischem Gas interessiert, weil es immer mehr davon braucht. Das Land nimmt die Energiewende sehr ernst und will sich daher von der Kohle, die in seinem Energiemix stark vertreten ist, und der Kernenergie trennen. Gleichzeitig erfordert der Ausbau der erneuerbaren Energien Gas als Reserve für den Fall, dass nicht genügend Wind und Sonne vorhanden sind. Wir [Polen] befinden uns in einer ähnlichen Situation und glauben auch an Gas. Allerdings unter der Bedingung, dass es sich nicht um russisches Gas handelt. Wir werden sehen, wer Recht behält.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Die Pipeline bleibt Moskaus Waffe

Vereiteln wird der Einwand der Bundesnetzagentur das Projekt nicht mehr, ist sich die Süddeutsche Zeitung sicher:

„Ein paar Überstunden für die Konzernjuristen, das nötige Personal, fertig ist die Laube ... . Bezeichnender noch ist aber, dass der eigentliche Zweck der Vorschriften [die organisatorische Trennung von Netz und Betrieb, die sicherstellen soll, dass auch andere die Leitung benutzen können] ins Leere laufen dürfte. ... Am anderen Ende sitzt doch immer derselbe, der die Röhre füllt - Gazprom. So demonstriert auch dieser Fall wieder nur Europas übergroße Abhängigkeit von russischem Gas. Diese Pipeline ist eine strategische Waffe in Moskaus Händen. Entschärfen lässt sie sich nur durch eine sinkende Nachfrage.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Regelverliebte Deutsche frieren halt lieber

Was man in Russland über die deutschen Formalitäten denkt, formuliert Radio Kommersant FM so:

„Eure Gesetze sind Eure Sache, was Ihr Euch halt so ausgedacht habt. Aber Ihr wollt doch winters nicht frieren, also tretet der Katze nicht auf den Schwanz. Zumal auch wir formale Gründe haben, um nicht mehr Gas liefern zu müssen. Das Problem sollte von der realen Lage ausgehend gelöst werden - und die ist so, dass es bald Winter ist und der Gaspreis alle bisherigen Rekorde sprengt. Außerdem droht unser gemeinsamer Freund Lukaschenka, sein Teilstück der Jamal-Europa-Pipeline zu sperren. Es liegt also in Eurem Interesse, Euch mit der Zertifizierung zu beeilen. Aber anscheinend sagt man in Deutschland: Sorry, Regeln sind uns wichtiger als die Aussicht zu erfrieren.“

Expressen (SE) /

Putin die Stirn bieten und das Projekt stoppen

Aus sicherheitspolitischen Gründen sollte die neue Bundesregierung eine radikale Wende vollziehen, fordert Expressen:

„Europa muss sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas lösen. Deutschland muss fünf Minuten vor zwölf eine dramatische Kehrtwende vollziehen, seine sechs bestehenden Atomreaktoren behalten und verhindern, dass die Gasleitung Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird. Sonst werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass Putin die EU mit ständig neuen Krisen destabilisiert.“

The Daily Telegraph (GB) /

Berlin muss die Ukraine schützen

Warum eine Abkehr von Nord Stream 2 notwendig ist, erklärt auch der frühere britische Verteidigungsminister Michael Fallon in The Daily Telegraph:

„Die Ukrainer brauchen keine Decken. Sie wollen Abwehr-Radare, Panzerabwehrraketen, mehr Drohnen und Cyberwaffen. ... Wir sollten dabei behilflich sein, die Verteidigungs- und Widerstandsfähigkeit der Ukraine auszubauen. ... Und wir müssen unsere deutschen Freunde davon überzeugen, dass die Nord Stream 2-Pipeline die Sicherheit der Ukraine direkt untergräbt und Berlins Aussetzung der Zertifizierung jetzt zu einer endgültigen Aufhebung führen sollte. Nord Stream 2 schadet der ukrainischen Wirtschaft, weil es deren Einnahmen aus dem Gastransit abgräbt, und Russland bekäme die Versorgung der Ukraine selbst in den Würgegriff.“