Sea-Watch 3: Migrationskrise hat ein neues Symbol

Die Kapitänin des Rettungschiffs Sea-Watch 3, Carola Rackete, ist wieder frei. Sie war festgenommen worden, nachdem sie mit 40 Migranten an Bord trotz Verbots in den Hafen von Lampedusa eingelaufen war. Politiker und Prominente kritisierten Rom deshalb scharf. Für Medien verrät die Episode viel über Europas Spaltung und Versagen in der Migrationspolitik.

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La Stampa (IT) /

Italien begibt sich in die Isolation

Der Ausgang der Affäre zeigt für La Stampa zwei Dinge:

„Erstens, dass in Italien die Gewaltenteilung funktioniert und es keinen demokratischen Notstand gibt. Zweitens: Der Innenminister, der seine politische Kampagne gegen humanitäre Hilfsorganisationen über alle Grenzen hinaus treibt (derweil es keine Zahlen gibt, die einen Einwanderungsnotstand belegen), zieht um Italien eine Art Cordon sanitaire, einen Gürtel der Isolation. Wir werden zu einem antipathischen, arroganten Land, das von außen eher Ungarn als Westeuropa ähnelt. Und außerdem verschleiern wir auf diese Weise die vielen Versäumnisse anderer europäischer Länder, die sich mit Blick auf die Aufnahme illegaler Migranten sicher nicht als Lehrmeister aufspielen können.“

Dagens Nyheter (SE) /

Europa ist in zwei Lager gespalten

Dagens Nyheter sieht den Fall Rackete als symbolisch für die tiefe Spaltung Europas:

„Salvini erhält Unterstützung von seinen Koalitionsfreunden von den Cinque Stelle und auch vom gemäßigten Premier Conte. Die deutsche Reaktion wiederum verbreitete sich weiter nach Frankreich, und auch der Vatikan unterstützte die Kapitänin. Die Reaktion der Bevölkerung spiegelt sich in den Spendensammlungen für die Gerichtskosten der Kapitänin wieder. ... Zum Thema gehört auch, dass Deutschland, Finnland, Frankreich, Luxemburg und Portugal angeboten haben, die 40 Migranten aufzunehmen. Die Kapitänin soll nach italienischem Recht bestraft werden, sie ist [für Italiens Regierung] eine Verbrecherin. Für diese Sichtweise kann Salvini mit der Unterstützung der national-populistischen Machthaber in Osteuropa rechnen.“

Novi list (HR) /

Wo bleiben Moral und Menschlichkeit?

Novi list kann über die europäische Flüchtlingspolitik nur den Kopf schütteln:

„Europa ist vor unseren Augen auseinandergefallen. Schon wieder agiert es nationalistisch, egoistisch, unfähig und unwillig eine Strategie mit Blick auf die Flüchtlings- und Migrantenkrise zu entwickeln, die über pure Repression hinausgeht. ... Von nun an stehen die Namen [der Kapitäninnen] Pia Klemp und Carola Rackete für die falsche Politik der Abschottung Europas gegenüber den Unglücklichen aus aller Welt; für eine Politik, die Europa nicht retten wird, sondern zerstören kann. ... Es kann doch nicht sein, dass ein Kontinent mit einer halben Milliarde Menschen - der meistentwickelte, glücklichste und oft auch humanste Teil dieser Welt - diesem Problem nicht Herr werden kann, obwohl es hier um Menschlichkeit und Moral geht.“

Welt (DE) /

Zivilcourage schützt vor Strafe nicht

Die Aufregung über die Festnahme Carola Rackete kann die Tageszeitung Die Welt nicht nachvollziehen:

„Wenn ein deutscher Kapitän beliebigen Geschlechts das Verbot, in einen Hafen zu fahren, missachtet und ein italienisches Zollboot bedrängt, ist das unzweifelhaft Widerstand gegen die italienische Staatsgewalt und strafbar. Wenn er oder sie ohne Genehmigung Ausländer in den Hafen bringt, ist das zweifellos Beihilfe zur illegalen Einwanderung. ... Lebensrettung begründet doch keine vorauseilende Generalamnestie für folgende Handlungen. Man kann das alles nach dem Maßstab der Barmherzigkeit moralisch gerechtfertigt finden, aber Zivilcourage schützt vor Strafe nicht, wenn sie einen Rechtsbruch darstellt.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Salvini spricht nur aus, was alle denken

Italiens Flüchtlingspolitik ist skandalös, die der EU aber nicht besser, urteilt der Tages-Anzeiger:

„Bei aller Empörung über Salvinis Heuchelei und Kaltschnäuzigkeit sollte eines ... nicht vergessen gehen: Italiens Innenminister ist bloss der rabaukenhafte Verfechter einer Migrationspolitik, hinter der letztlich die ganze Europäische Union steht - weniger vulgär zwar, aber dafür umso verlogener. Der Grundsatz dieser Politik lautet: möglichst wenig Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa kommen zu lassen. Und müssen dafür die viel beschworenen europäischen Werte geopfert werden, dann sei es halt so. ... Der EU ist es bis heute auch nicht gelungen, einen solidarischen Verteilschlüssel für Migranten zu finden. Genauso wenig scheint sie zu einer Reform der Dublin-Regel imstande, die sich schon während der Krise um die Balkanroute als völlig untauglich erwiesen hat.“

Dimokratia (GR) /

Die wahren Motive der Sea-Watch-Kapitänin

Die konservative Tageszeitung Dimokratia flüchtet sich in Verschwörungstheorien:

„Rackete und die, die ihr Befehle geben, haben die Bedeutung von 'Humanismus' uminterpretiert. Es geht ihnen darum; Italiener durch Afrikaner zu ersetzen, die sie auf ihren Schiffen transportieren. (Wer die Reise, Wartung und den Betrieb dieser Schiffe finanziert, ist nicht bekannt). Diese Frau und ihresgleichen haben entschieden, dass sie das Recht haben, Gesetze mit Füßen zu treten, Schiffe zu rammen und gegen sonstige Regeln zu verstoßen - weil sie überzeugt sind, dass sie Humanisten sind!“

Kurier (AT) /

Menschlichkeit ist zur Straftat geworden

Carola Rackete hat im Sinne der Humanität und des Völkerrechts gehandelt, erklärt die Tageszeitung Kurier:

„Die Deutsche steht jetzt unter Hausarrest, weil sie die Menschen nach Italien gebracht hat. Die Festnahme war rechtens. Doch die junge Frau hat … das einzig Richtige getan. Sie hat Menschen vor dem Tod bewahrt. Ein Gebot der Menschlichkeit, eine Pflicht auch im Sinne des Völkerrechts: Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen besagt, dass jeder Kapitän, der Kenntnis von einem Seenotfall erhält, verpflichtet ist, zu helfen. ... Warum behandeln wir Menschen, die andere Menschen aus dem Meer retten, wie Verbrecher? Wann ist Menschlichkeit zur Straftat geworden? In welcher Welt leben wir?“

Mérce (HU) /

Europas Politiker haben Tausende auf dem Gewissen

Für Philosoph Miklós Tamás illustrieren die Geschehnisse die ganze Tragödie der europäischen Migrationspolitik, wie er in Mérce schreibt:

„18.000 Flüchtlinge sind wegen der Versäumnisse der nationalen Regierungen und der EU im Mittelmeer bisher ertrunken. Im Grunde müsste jeder einzelne Mitgliedsstaat wegen der Verletzung europäischen Rechts aus der EU und aufgrund der Verletzung internationalen Rechts aus Europarat und Uno ausgeschlossen werden. ... Vergessen wir nicht, was die erlauchten Vertreter der am höchsten entwickelten Zivilisation tun. Allesamt. Sie töten schutzlose Menschen! ... Wenn Ihr endlich zu den Pflastersteinen greift, um diesen Mördern die Fensterscheiben einzuwerfen, vergesst Carola Rackete nicht. Sie wurde festgenommen, weil sie ein gutes Herz hatte.“

Corriere della Sera (IT) /

Deutschland sollte lieber schweigen

Kolumnist Aldo Cazzullo verbittet sich in Corriere della Sera deutsche Belehrungen:

„Deutschland duldet, wenn es um seine Gesetze geht, selbst keine Laschheit. Und gleichwohl die Bundesrepublik Flüchtlingen gegenüber auf historische Art und Weise offen ist, dauerte Angela Merkels Flüchtlingspolitik der Aufnahme nur wenige Tage. Danach wurde die Strategie gewechselt und Erdoğan bezahlt, damit er die Syrer in der Türkei festhalte, während [aus Italien einreisende] Migranten nun in das Erstankunftsland zurückgeschickt werden, vorzugsweise sediert und gefesselt. Allerdings brauchte unser Land am Vorabend einer komplizierten Verhandlung mit Europa alles außer einen diplomatischen Unfall, die Verhaftung einer jungen Frau, begleitet von einer - leider für unsere Regierung üblichen - Propaganda, als hätte man den Mafiaboss Matteo Messina Denaro oder einen anderen Schwerverbrecher ergriffen.“

Le Monde (FR) /

Kapitänin hält Europa den Spiegel vor

Le Monde verteidigt die Entscheidung von Kapitänin Carola Rackete, Lampedusa anzusteuern:

„Indem sie nach einer erfolglosen Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte diese Entscheidung getroffen hat, konfrontiert die Kapitänin der Sea-Watch 3 Europa mit seinen jahrelangen Rückziehern und Ausflüchten. Und indem sie den Gehorsam für einen Befehl verweigert hat, der nur den Anschein der Legalität hatte, nämlich die geretteten Schiffbrüchigen an die libysche Küste zurückzubringen, hat Frau Rackete allen die Existenz internationaler Abkommen und gewisse Wahrheiten ins Gedächtnis gerufen. Ja, jedermann ist zur Seerettung verpflichtet. Es handelt sich nicht um eine suspekte Aktivität, die die Freiwilligen von NGOs - bewusst oder unbewusst - zu Handlangern des Menschenhandels macht.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Die Antigone gegen den Rambo

Der Tagesspiegel erkennt in dem Konflikt das Ausmaß einer antiken Tragödie:

„Mann gegen Frau, der vulgäre Rambo in Rom gegen die Kommandantin, die Verantwortung übernimmt, die wie die altgriechische Heldin ohne Rücksicht auf persönliche Verluste, ... höheres Recht, die Menschlichkeit, gegen einen Mächtigen vertritt, der Unrecht tut: Das könnte das Bild sein, von dem man eines Tages sagen wird, dass es der Anfang vom Ende der bisherigen Strategie zur Verteidigung der Festung Europa war. ... Wie schon oft in der Geschichte ... erlag die Macht ... dem Irrtum, sie sei schließlich im Besitz aller Zwangsmittel. Und kalkulierte nicht ein, dass es auch die Möglichkeit gibt, sich dem Zwang durch zivilen Ungehorsam zu entziehen. Die Kapitänin der Sea Watch versucht gerade die Probe aufs Exempel.“

La Repubblica (IT) /

Reines Ablenkungsmanöver von Salvini

Italiens Innenminister Salvini hat die Sea Watch zu einer Art Nessie des Mittelmeers stilisiert, um von den wahren Problemen des Landes abzulenken, schimpft Kolumnist Ezio Mauro in La Repubblica:

„Vielleicht ist das Ungeheuer ein bisschen zu früh erschienen, um das Sommerloch mit Propaganda zu füllen, die nicht politisch, sondern ideologisch ist. Doch ist der Zeitpunkt immer noch nützlich, um die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung von den internen Streitigkeiten in der Regierung abzulenken, von Steuern, die ein Rekordniveau erreicht haben, von Europa, das sich mit den Schulden Italiens befasst. ... Also, volle Kraft voraus: Den Fall Sea-Watch überproportional aufbauschen, während die politische Realität die Regierung doch zwingen würde, zu schweigen, in der Defensive zu bleiben angesichts der Leere ihrer Unentschlossenheit.“