Was verändert der Shutdown?

Der Versuch, die Ausbreitung von Sars-Cov-2 einzudämmen, stellt viele Menschen vor nie dagewesene Herausforderungen. Die einen versuchen, Heimarbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen, andere bangen um ihre blanke Existenz. Kommentatoren überlegen, welche langfristigen Folgen der Ausnahmezustand haben wird und wie Staaten darauf reagieren müssen.

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Hürriyet Daily News (TR) /

Familienzeit wird wichtiger

Menschen werden künftig andere Prioritäten im Leben setzen, glaubt Kolumnist Ersu Ablak auf dem Portal Hürriyet Daily News:

„Die Menschen definieren das Wesentliche neu. Sie realisieren, was eine Familie ist, wenn sie mehr Zeit mit ihr verbringen müssen. Sie realisieren, wie wichtig es ist, sich Zeit für ihre Kinder zu nehmen. Ich glaube, dass diese Situation zusammen mit der Erkenntnis, dass unsere Lebensweise nicht wirklich nachhaltig ist, unseren Alltag verändern wird. Viele Menschen werden sich weigern, ins Büro zu gehen. Sie werden versuchen, zuhause zu arbeiten, und die gewonnene Pendelzeit für ihre Lieben zu nutzen.“

Der Standard (AT) /

Frauen ziehen den Kürzeren

Die Pandemie verstärkt die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, beobachtet seinerseits Der Standard:

„Darf die 24-Stunden-Betreuerin … nicht mehr kommen, um der Oma zu helfen; bleibt die Putzfrau daheim; müssen die Kinder dreimal täglich bekocht, beschult und bespaßt werden, bricht unser fein austariertes Lebensmodell in sich zusammen. Die Entscheidungen, die Paare dieser Tage fällen müssen, sind so simpel wie hart: Der mit dem höheren Einkommen und dem Vollzeitjob arbeitet, so gut es geht, weiter. Die mit dem Teilzeitjob und dem geringen Einkommen übernimmt noch stärker als bisher die Versorgungsarbeit. Da 79 Prozent aller Teilzeitjobs von Frauen erledigt werden, muss man nicht lange raten, wie die Rollenverteilung aussieht. Das sind nüchterne finanzielle Überlegungen - mit weitreichenden Folgen: Wer in einer solchen Megakrise beruflich nicht am Ball bleibt, wird auch deren Spätfolgen stärker spüren.“

Wedomosti (RU) /

Bedingungsloses Grundeinkommen kommt

Der Staat muss nun dafür sorgen, dass Einkommen und Arbeit voneinander entkoppelt werden, fordert Wirtschaftswissenschaftler Maxim Bujew in Wedomosti:

„Im Epidemiefall kommt es darauf an, dass sich die Wirtschaft wie eine Schnecke ins Schneckenhaus zurückzieht, ohne dass der Arbeitsmarkt kollabiert. Dann bedeutet fehlende wirtschaftliche Aktivität zwar das Fehlen von Arbeit, aber nicht von Mitteln zur Existenzsicherung. Kurzum, man wird von Experimenten mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu dessen aktiver Einführung übergehen. Und in jedem Fall hängt der Erfolg unserer Gesellschaften bei der Umgestaltung der Wirtschaft stark vom Vertrauen in die Staatsorgane ab.“

CriticAtac (RO) /

Krise nicht zugunsten des Kapitals lösen

Die Weltbank hat angekündigt, angesichts der Corona-Krise mit Hilfsprogrammen zu reagieren. Diese müssen aber diesmal anders aussehen, drängt die Redaktion des Blogportals Criticatac:

„Es ist wichtig, dass diese Krise nicht wie vorherige Krisen zugunsten des Kapitals 'gelöst' wird. Es ist wichtig, Strukturreformprogramme anzuprangern, die Markt und Sparmaßnahmen als Lösung für alles preisen. Weltbank und IWF haben diese in den vergangenen Jahren vor allem für 'Entwicklungsländer' und 'Schwellenländer' aufgelegt. Jene bekamen sie im Gegenzug für neue Kredite oder neue Versprechen, sie in 'die gute' Welt der kapitalistisch entwickelteren Länder aufzunehmen. Solche Programme bedeuteten immer und überall Sparmaßnahmen und Armut - und dass sich die Entwicklung (in allen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen) der Logik des Kapitalismus unterwirft: dem Drang nach Profit.“

Azonnali (HU) /

Positive Effekte bewahren

Der eingeschränkte Alltag zeigt einige Möglichkeiten für eine lebenswertere Welt auf, meint Sándor Èsik in Azonnali:

„Ich kann jedem Budapester nur empfehlen, während eines Gesundheitspaziergangs von der Zitadelle einen Blick runter auf die Stadt zu werfen: so ist sie, wenn sie sauber ist. Wenn die hunderttausend Autos, deren Besitzer sonst auch mit dem Bus oder mit dem Fahrrad zur Arbeit könnten, gerade nicht verkehren. ... Ungarn könnte ein Land sein, wo die Leute während der Grippenwelle im Februar fünf bis sechs Tage freiwillig zu Hause bleiben, weil ihre Arbeitgeber in der Sache des Homeoffice flexibel sind ... Eines Tages werden die Touristen wieder zurück sein, und der Verkehr wird erneut zunehmen. Es ist aber nicht egal, wo und wie. Es liegt an uns, wie viel wir von dem, was wir jetzt erreicht haben, auch nach der Pandemie bewahren können.“

Latvijas Avīze (LV) /

Die Profiteure stehen längst bereit

Māris Antonēvičs von Latvijas Avize sieht Covid-19 als gute Gelegenheit, die schwarzen Schafe der Wirtschaftswelt zu identifizieren:

„Ich gebe zu, dass ich mich nicht von dem oft gesungenen Mantra 'Krise als Chance' inspirieren lasse. Jemand wird immer vom Leiden anderer profitieren. ... Viele von denen, die in den letzten Wochen ihren Arbeitsplatz verloren haben, könnten bald finanzielle Probleme bekommen und werden bestimmt freundlichen 'Helfern' mit hübsch verpackten Kreditangeboten begegnen. ... Gesundheitsministerin Ilze Vinkele betonte diese Woche, dass einige Unternehmer versuchen, sich an Covid-19 zu bereichern. Es werden unangemessene Summen für Schutzausrüstung verlangt und Produkte ohne die erforderlichen Zertifikate angeboten. Es ist also ein guter Zeitpunkt, um die wahre Natur verschiedener Unternehmer zu entdecken.“

Libération (FR) /

Die Menschheitsgeschichte wird persönlich

Der Soziologe Edgar Morin schreibt in Libération, dass die Pandemie einen tief empfundenen Humanismus ermöglicht:

„Momentan haben wir uns in Reaktion auf die Ausgangssperre geöffnet, wir gehen aufmerksamer und solidarischer miteinander um. ... Persönlich fühle ich, dass ich schon allein durch die Ausgangssperre selbst Teil des nationalen Schicksals und der globalen Katastrophe bin. Mehr denn je fühle ich mich am unsicheren und ungewissen Abenteuer unserer Gattung teilnehmen. Mehr denn je fühle ich das gemeinsame Schicksal der Menschheit. ... Jeder ist Teil des großen Organismus von sieben Milliarden Menschen, wie eine Zelle unter Hunderten Milliarden von Zellen im Körper, und jeder nimmt Teil an diesem Unendlichen, dem Unabgeschlossenen, an dieser Realität, die aus Träumen aufgebaut ist, an diesem Ganzen, das aus Schmerz, Freude und Unsicherheit besteht.“