Conte wird Italiens neuer Premier

Italiens Präsident Mattarella hat dem politisch unerfahrenen Juristen Giuseppe Conte den Regierungsauftrag erteilt. Damit kann der künftige Premier ein Kabinett aus Ministern der EU-kritischen Parteien Movimento Cinque Stelle und Lega bilden. Kommentatoren bewerten die Auswirkung dieser Entscheidung auf Europa.

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La Repubblica (IT) /

Bürger können sich zurücklehnen

In seiner ersten Erklärung sagte der Juraprofessor, er wolle Anwalt und Verteidiger des italienischen Volks sein. Doch mit solchen Worten nimmt Conte die Bürger aus der Pflicht, schimpft La Repubblica-Chefredakteur Mario Calabresi:

„Die Worte sind bereits ein politisches Manifest. ... Die Bürger werden nicht mehr aufgefordert, ihren eigenen Teil beizutragen und ihr Bestes zu geben. Stattdessen verspricht man ihnen den Beginn einer Ära, in der die Harmonie zurückkehrt und sich alle Probleme wie von selbst lösen. Sollten Schwierigkeiten auftreten, liegt die Schuld wie gehabt bei denjenigen, die gegen den Wandel sind.“

La Tribune de Genève (CH) /

Willkommene Konfrontation

Dass mit Italien nun auch ein EU-Gründungsland eine EU-kritische Regierung erhält, erachtet La Tribune de Genève als wertvollen Impuls für die Union:

„Diese Konfrontation kommt sehr gelegen. Die nationalen und europäischen Institutionen erweisen sich schon zu lange als unfähig, die Gemeinschaftsprobleme der EU zu lösen. Das kann so nicht weitergehen. Drei Fronten zeichnen sich bereits ab: Rom will die Staatsausgaben erhöhen und zugleich die Steuern senken, wodurch es seine eigene finanzielle Stabilität und auch die der gesamten Eurozone in Gefahr bringt. Zudem will Italien die Zuwanderungspolitik verschärfen und hebt dabei die Gleichgültigkeit seiner [EU-]Partner hervor. Nicht zuletzt möchte das Land die Sanktionen gegen Russland aufheben, wodurch es den Wankelmut des Kontinents verschlimmert, der bei diesem Thema ohnehin schon schizophren wirkt.“

hvg (HU) /

Vorreiter der europäischen Politik?

Das politische Experiment in Italien könnte auch in anderen Teilen Europas Schule machen, kommentiert hvg:

„Die Bedeutung der sich neu formierenden italienischen Regierung ist deshalb groß, weil Italien - auch wenn seine Politik von außen oft unterhaltsam wirkt - Vorreiter bei zahlreichen politischen Entwicklungen in Europas Geschichte war. Sowohl die Institutionen des Staats, als auch der Faschismus sind Beispiele dafür, dass zuerst in Italien erscheint, was sich dann in ganz Europa verbreitet. ... Jetzt probiert Italien also einen neuen Pudding. Nicht die Migrantenfeindlichkeit der Lega ist dabei neu. Das Neue ist die Mischung aus Basisdemokratie und Autoritarismus, eine historische Herausforderung für die parlamentarische Demokratie.“

Corriere della Sera (IT) /

Am seidenen Faden

Massimo Franco, Experte für Innenpolitik, wittert die Gefahr einer Neuwahl nicht zuletzt angesichts der Personalentscheidungen in Rom. Er schreibt in Corriere della Sera:

„Die Anti-Euro-Positionen von Professor Paolo Savona [vorgesehen als Finanzminister] sind nicht minder beunruhigend wie die politische Unerfahrenheit und die angefochtenen akademischen Titel von Conte. … Bleibt nur zu hoffen, dass es Präsident Mattarella in den nächsten Stunden gelingen wird, seinen Gesprächspartnern klarzumachen, was auf dem Spiel steht und diejenigen zu entmutigen, die verführt von der Aussicht auf Neuwahl der Versuchung kaum widerstehen können, alles platzen zu lassen [wie Matteo Salvini angedroht hat]. “

France Inter (FR) /

EU sollte die Füße erstmal stillhalten

Die Regierung aus Lega und Movimento Cinque Stelle wird sehr bald an ihren eigenen Fehlern scheitern, glaubt Bernard Guetta vom Morgenprogramm von France Inter und rät daher zu Geduld:

„Die Reaktion ist keine einfache Aufgabe, doch wenn eine Implosion der EU verhindert werden soll, müssen sich die Kommission und die Regierungen in den europäischen Hauptstädten davor hüten, die sich in Rom abzeichnende Regierung umgehend anzuprangern. Diese Regierung darf niemand anderen als sich selbst für ihre bevorstehenden Schwierigkeiten verantwortlich machen können. Man sollte ihr also, wie jeder neuen Mannschaft, viel Glück wünschen und geduldig warten, dass Italien wieder auf die Beine kommt.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Berlin hat Europas Krise noch nicht verstanden

Angesichts der Situation in Italien ist jetzt insbesondere Deutschland gefordert, erklärt der Tagesspiegel:

„Das jahrelange Athen-Drama lässt sich mit Rom nicht wiederholen, denn fährt die drittstärkste Volkswirtschaft Europas gegen die Wand, droht die EU zu zerbrechen. Man kann das verstehen: Italien fühlt sich angesichts der längsten Mittelmeerküste zu Recht allein gelassen mit der anlandenden Migration. Und rund 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im Süden rufen nach Investitionen in Bildung und Arbeit. Präsident Macron hat die europäische Krise begriffen, doch Kanzlerin Merkel gibt bisher keine Antworten. Die Deutschen gelten in Italien schon länger als sich selbst bereichernde Gewinner einer Austerity-Politik. Auf Kosten anderer. Erst wer diese Kritik ernst nimmt, kann umgekehrt auch mehr Selbstkritik fordern. Um in Rom wahrhaft nötige Reformen zu fördern.“

Index (HU) /

Hiobsbotschaft aus Rom

Die Hoffnung, dass die EU langsam in ruhigeres Fahrwasser kommt, haben die italienischen Wähler zunichte gemacht, konstatiert Index:

„Die Italiener haben im März eine populistische Witzpartei und eine rechtsradikale Partei gewählt, die vor nicht allzu langer Zeit noch eine Kampagne für die Abspaltung des Nordens von Italien betrieb. Und diese beiden - so scheint es - werden jetzt doch noch eine Koalition bilden. Was bedeutet, dass Europas viertgrößte Wirtschaft nun von Leuten regiert wird, die die Staatsschulden nicht zurückzahlen und die Staatsausgaben erhöhen wollen, obwohl das Land in Europa bei der Höhe der Schulden an zweiter Stelle steht. Außerdem will diese Regierung auf einen Schlag eine halbe Million Asylbewerber abschieben, während sie auch noch Wladimir Putin umwirbt. Das verspricht nicht viel Gutes für die EU“

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La Repubblica (IT) /

Premier ohne eigenen Spielraum

Giuseppe Conte steht nur den Chefs der koalierenden Parteien zu Diensten, glaubt La Repubblica-Chefredakteur Mario Calabresi:

„Er ist ein Ministerpräsident, dessen Aufgabe es sein wird, ein Programm zu verwirklichen, das er nicht geschrieben hat, mit einer Mannschaft, die er nicht selbst gewählt hat. Da kommt man nicht umhin, zu fragen, welcher Freiraum ihm, eingepfercht zwischen Salvini und Di Maio, zugestanden wird. ... Wie wird sich Giuseppe Conte beispielsweise auf dem G7-Treffen in Kanada [im Juni] oder einem europäischen Gipfel verhalten? Was kann er ohne den Segen der Aktionäre der Koalition sagen oder entscheiden? ... Es genügt, wenn er sich an den Vertrag hält, dem das Volk zugestimmt hat, wird es heißen. Das ist die einzige Legimitierung. Doch die Realität wird Probleme aufwerfen, die dieser schwammige und zweideutige Vertrag nicht im Entferntesten behandelt.“

Kurier (AT) /

Hauptsache, die EU wird zerstört

Die Lega wird als überlegener Koalitionspartner die EU schwächen, analysiert der Kurier:

„'Movimento Cinque Stelle', (M5S) hat Teile des Wahlprogramms von Wikipedia abgeschrieben, ein Grundeinkommen für alle versprochen und wird vom irrlichternden, abwesenden Komiker Beppe Grillo geleitet. Die Lega Nord hingegen ist inzwischen eine im Norden etablierte Partei, die gemeinsam mit Marine Le Pen und anderen die EU schwächen will. ... Die Geschenke, die M5S und Lega nun vereinbart haben, sollen nicht die Italiener, sondern die ganze EU zahlen, durch noch höhere Schulden und einen Schuldennachlass durch die EZB. Das wird nicht stattfinden, aber die Ablehnung der EU in Italien nochmals verstärken. Genau das will die Lega - irgendwie die EU zerstören.“

De Morgen (BE) /

Rom könnte sich aus dem Euro herausschleichen

Die neue Koalition in Rom will Verbindlichkeiten des Staates mit Schuldscheinen bezahlen, in Italien Mini-BOTs genannt. Vor großen Risiken warnt in diesem Zusammenhang Wirtschaftsprofessor Paul De Grauwe in seiner Kolumne für De Morgen:

„Währungssysteme, die sich auf zwei parallele Währungen stützen, sind nicht stabil. Das hat mit dem Gesetz von Gresham zu tun: ... 'Bad money drives out good money'. ... Wenn der italienische Staat zu viele Mini-BOTs ausgibt, wird der Wert dieser parallelen Währung sinken. Immer mehr Italiener werden mit dieser minderwertigen Währung bezahlen und den 'echten Euro' sparen. Der echte Euro wird dann immer weniger im Umlauf sein. Das wird auch der Moment sein, wo Italien aus dem Euro austreten kann. Ich kann mich dem Eindruck nicht entziehen, dass das auch die eigentliche Absicht der Führer der neuen italienischen Regierung ist.“

L'Opinion (FR) /

Die Gelegenheit für einen neuen Aufbruch Europas

Dass eine Krise zwischen Rom und seinen EU-Partnern Europa voranbringen könnte, glaubt hingegen Strategieberater Hakim el Karoui in L'Opinion:

„Die Italienkrise kann eine Gelegenheit sein, um zu zeigen, dass man Europa nicht durch währungspolitische Flickschusterei und faule juristische Tricks rettet. Das Wirtschaftssystem der Eurozone funktioniert nicht: Die geografische Polarisierung zieht das Kapital und die Wertschöpfung nach Nordeuropa; im Süden hingegen gibt es nicht genug Wertschöpfung, was sich direkt auf die öffentlichen Kassen auswirkt. Die Deutschen haben 2011 [während der Griechenlandkrise] bewiesen, dass sie bereit sind, ihre Position zu ändern, selbst wenn sie diese als unverrückbar präsentieren. Die sich abzeichnende Italienkrise kann paradoxerweise eine ideale Gelegenheit für einen neuen Aufbruch Europas darstellen. Hoffen wir, dass Emmanuel Macron dies zu nutzen weiß.“