Zweite Welle: Dos and Don'ts für Politik und Bürger

Wegen der stark ansteigenden Zahl von nachgewiesenen Corona-Infektionen haben viele europäische Staaten wieder härtere Beschränkungen angeordnet: von der Schließung von Bars und Kultureinrichtungen bis hin zu einer Maskenpflicht im Freien. Über den Sinn und Unsinn einzelner Maßnahmen wird in Europas Kommentarspalten heiß diskutiert.

Alle Zitate öffnen/schließen
De Telegraaf (NL) /

Supermarkt-Mitarbeiter sind keine Polizisten

Im Teil-Lockdown in den Niederlanden ist der Verkauf von Alkohol ab 20 Uhr verboten. Wie das praktisch durchgesetzt werden soll, fragt sich De Telegraaf:

„Die oft jungen Mitarbeiter, die vor allem abends als Nebenjob im Supermarkt arbeiten, sind keine Ordnungshüter. Und welche 17-jährige Kassiererin hat den Mut, einen älteren Kunden wegzuschicken, der nach acht Uhr noch eine Flasche Wein kaufen will? Die Gewerkschaften haben recht mit ihrer Feststellung, dass Supermärkte ihre Mitarbeiter vor Diskussionen über die Durchsetzung des Alkohol-Verbotes schützen müssen. Kunden zu ermahnen, dass sie einen Einkaufswagen nehmen, Abstand halten und eine Maske tragen müssen, sind genug Zusatzaufgaben. Jetzt auch noch Polizist spielen - das geht zu weit.“

Mediapart (FR) /

Kapitalismus in seiner brutalsten Form

Frankreichs Präsident Macron hat für die Region Paris und acht weitere Metropolen eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, um Covid-19 einzudämmen. Für Mediapart eine menschlich wie wirtschaftspolitisch desaströse Entscheidung:

„Für ihn ist überflüssig, was nicht zur Wettbewerbsfähigkeit beiträgt. … Die Sperrstunde zeugt von der Rückkehr zur kapitalistischen Ordnung in ihrer Rohform. Der Mensch wird auf seine produzierende Funktion als Diener im Handelssystem reduziert. … Emmanuel Macron verurteilt sich selbst zum wirtschaftlichen Scheitern. Seine Verblendung im Sommer, als man der Wirtschaft Vorrang einräumte, hat die Epidemie zurückgebracht. Und somit eine erneute Verlangsamung der Wirtschaft. Denn auch wenn wir weiter arbeiten, verbrauchen wir weniger, vor allem Freizeit- und Kulturgüter und -dienstleistungen. Unter diesen Bedingungen wird niemand Investitionen wagen.“

Primorske novice (SI) /

Schüler ziehen wieder den Kürzeren

In Slowenien gilt ab Montag verpflichtender Fernunterricht für alle Schüler ab der sechsten Klasse. Die Maßnahme ist nicht besser durchdacht als im Frühling, befürchtet Primorske novice:

„Die Regierung hat mit den neuesten Verschärfungen der Maßnahmen nicht überrascht. Doch die undifferenzierte Anordnung des Fernunterrichts unabhängig von Region oder Gemeinde ist eine negative Überraschung. ... Auch, weil die Verbreitung des Virus in Schulen nicht dramatisch ist. ... Es bleibt zu hoffen, dass die Schulen auf die erneute Einführung des Fernunterrichts, der hoffentlich nach den Herbstferien wieder abgeschafft wird, besser vorbereitet sind. Dabei sind nicht nur die Lernziele wichtig, sondern vor allem das Verständnis, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen an erster Stelle stehen.“

tagesschau.de (DE) /

Gerichte haben ihre Rolle gefunden

Das zuvor von den deutschen Bundesländern beschlossene Beherbergungsverbot ist in Baden-Württemberg und Niedersachsen gerichtlich kassiert worden. Von tagesschau.de erhalten die Gerichte dafür viel Lob:

„Sie sagen: Trotz steigender Fallzahlen seien in Deutschland keine Ausbrüche in Hotels bekannt. Aktuell wäre doch wohl eher ein Problem, wenn Menschen in größeren Gruppen ohne großen Abstand aufeinandertreffen. Also bei Partys, in der Schule oder in Pflegeheimen. ... Es ist wohltuend, wenn die Gerichte trotz steigender Zahlen einen kühlen Kopf bewahren und gegen den Strich bürsten. So selbstbewusst waren die Gerichte am Anfang der Corona-Zeit noch nicht. Aber sie haben ihre Rolle gefunden. Und all die, die sagen, ... es gäbe keinen Widerstand gegen unsinnige Panikmache, die sind heute jedenfalls eines Besseren belehrt worden.“

Dagens Nyheter (SE) /

Regeln müssen einheitlich und gerecht sein

In Schweden, wo neben dem Abstandsgebot weiterhin mehrere strenge Vorgaben gelten, haben Bilder von ausgelassenen Feiern in Stockholmer Edelbars Empörung ausgelöst. Dagens Nyheter kann verstehen, dass die Geduld der Schweden schwindet:

„Breite Teile der Bevölkerung finden wahrscheinlich, dass es nun langsam reicht. Je mehr Partybilder, desto mehr Menschen fragen sich, warum sie zu Hause sitzen sollen. ... Wir Schweden gehören sicherlich zur Weltspitze, wenn es darum geht, selbst absurdesten Regeln Folge zu leisten. Und in Zeiten, da sich ein Virus verbreitet, ist das gewiss von Vorteil. Aber nötig sind auch Logik, Konsequenz und ein Gefühl von Gerechtigkeit. Im Fußballstadion bibbern oder im Theater klatschen: verboten. Aus der gleichen Champagnerflasche trinken wie ein Don Corona: kein Problem? Um das zu erklären, braucht [Staats-Epidemiologe] Tegnell viele Pressekonferenzen.“

Rzeczpospolita (PL) /

Mit Informationen Vertrauen schaffen

Rzeczpospolita ärgert sich über den Mangel an offiziellen, verlässlichen Informationsquellen in Polen:

„Da die Regierung keine Anstrengungen unternimmt, eine systematische Infektionsanalyse vorzubereiten, und auch kein Covid-19-Informationszentrum hat, sondern lediglich das Alarmsystem des [Katastrophensicherheitszentrums] RCB verwendet, das Warnungen an Handys schickt, übernehmen die Medien, einschließlich der sozialen Medien, die Erklärung, Kommentierung und Alarmierung. Und weil sie von Menschen mit allen möglichen Ansichten über die Welt und die Pandemie erstellt werden, findet man auch alle möglichen Ansichten im Internet. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Inmitten der Flut naiver Propaganda von Verschwörungstheoretikern und denjenigen, die die Pandemie leugnen, veröffentlichen auch Experten Informationen und Analysen.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Lernprozesse anerkennen

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fordert mehr Nachsicht mit den Politikern:

„Sie sind auch nur Menschen, die sich irren können, die sich korrigieren müssen, die ständig dazulernen. Eine Politik, die ihren ständigen Lernprozess in einer solchen Krise transparent macht, auch auf die Gefahr hin, sich angreifbar zu machen, ist ein Gewinn, keine Schwäche. Doch manche Bürger gestehen ihren Politikern keine Fehler mehr zu. Stattdessen nehmen sie revidierte Einschätzungen und Kurswechsel (nicht nur) in der Pandemie ausschließlich als Beleg für chaotisches Krisenmanagement und fehlende Führungsstärke. Oder, schlimmer noch, als Bestätigung des Generalverdachts, 'diesen Politikern' könne man nichts mehr glauben. Das ist das gefährlichste Gift von allen, weil es den Grundkonsens zersetzt, auf den sich jede Demokratie stützt.“

Új Szó (SK) /

Nicht nur auf die Likes schauen

Új Szó wirft dem slowakischen Premier Igor Matovič Panikmache vor:

„Mittlerweile haben wir ein klares Bild davon, was es bedeutet, wenn Regierungschef Igor Matovič die Pandemiebekämpfung betreut. Auf seiner Facebook-Seite wird jeden Tag ein Post veröffentlicht, in dem er das halbe Land als blöd bezeichnet und jedermann zur Hölle schickt. Diese Posts umfassen meistens auch die neuesten Testzahlen und werden immer vor 10 Uhr, also noch vor den offiziellen Daten veröffentlicht, um eine bestimmte Klick- und Besucherzahl zu erreichen. Außerdem stellt sich Matovič in diesen Posts regelmäßig als Märtyrer dar, verursacht Panik und versucht, seine Verantwortung abzuschütteln und sie anderen aufzubürden. ... Das passiert, wenn es in der Politik nur um den heutigen Tag und um die Likes geht.“

Le Monde (FR) /

Gesundheit demokratisieren

Nur eine Gesundheitsdemokratie kann die sozialen Spannungen der Corona-Krise entschärfen, erklärt der Philosoph Frédéric Worms in Le Monde:

„Gesundheit ist nicht nur die Behandlung von Krankheiten, denn sie hat eine lokale, individuelle und heilende Dimension, aber auch eine globale, kollektive und präventive Dimension. Die getroffenen Entscheidungen betreffen nicht nur den Einzelnen, sondern auch andere. ... Wir müssen nun neue Entscheidungswege finden, die es erlauben, Gesundheit und Freiheiten, Eigenständigkeit und Wirtschaft in Einklang zu bringen, und zunächst über die Herausforderungen in sämtlichen Bereichen diskutieren. Eine Gesundheitsdemokratie, auf der viele Stimmen zurecht beharren. ... Sie erfordert neue nationale und lokale bürgerliche Beratungsinstanzen. Nur die Gesundheitsdemokratie macht die Gesundheit wirklich zu einer öffentlichen Angelegenheit.“

Die Presse (AT) /

Die Vernünftigen müssen es ausbaden

Dass sich die Corona-Situation wieder verschärft, hat für Die Presse einen einfachen Grund:

„[W]eil sich viele, zu viele Menschen nicht an die Spielregeln halten und stattdessen riesige Hochzeiten mit Gesang und Tanz feiern, die Maske auch in den paar Situationen verweigern, in denen sie sinnvoll ist, und insgesamt eine diesbezügliche Ignoranz von Trump'schen Dimensionen an den Tag legen. Ohne diese Realitätsverweigerer müsste man wahrscheinlich weder eine rechtsphilosophische Debatte über die Grenzen staatlicher Eingriffe in Grundrechte führen noch nennenswerte Restriktionen des Alltagslebens hinnehmen, wie sie jetzt von Paris bis Palermo wieder verfügt werden, weil das Konzept der Eigenverantwortung von zu vielen Menschen leider nicht verstanden wird. Es ist dies, wie so oft, ein Preis, den die Vernünftigen für das Verhalten der Unvernünftigen entrichten müssen.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Bürger würden ja wollen, wenn sie könnten

Christoph Prantner, Berlin-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, fragt sich, ob der Staat in den vergangenen Monaten gar nichts dazugelernt hat:

„Inzwischen hat sich ... mit der zunehmenden Ansteckungsrate wieder ein Wildwuchs an Regelungen verbreitet, die von notwendiger epidemiologischer Eindämmung bis zu schieren Ersatzhandlungen reichen. ... Bei alldem werden Politiker nicht müde, wohlfeile Appelle an Vernunft und Verantwortung der Bürger zu verbreiten. Allein, die meisten Bürger würden ja wollen, wenn sie könnten. Heute ist das korrekte Befolgen der Corona-Regularien nicht weniger als ein Vollzeitjob, für den es ein abgeschlossenes Studium der Verwaltungswissenschaften braucht. Dass Bund und Länder im zweiten Anlauf endlich zu einheitlichen Regelungen in wesentlichen Fragen der Pandemiebekämpfung kommen, ... wäre das Mindeste, das Bürger von einem Staat verlangen können.“

newsru.com (RU) /

Winter-Lockdown von vornherein sinnlos

In Moskau wurde eine zusätzliche Herbstferienwoche verordnet und Unternehmen müssen 30 Prozent des Personals in Heimarbeit schicken. Publizist Andrej Nikulin kritisiert die neuen Beschränkungen in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post:

„Man muss den Leuten erlauben, Geld zu verdienen und in Würde zu leben. Wenn Sie etwas begrenzen oder verbieten wollen, dann müssen Sie Bürgern und Business entsprechende Kompensationen bieten. Andernfalls würde es bedeuten, dass Sie nicht für die Bürger, sondern nur für Ihr internes Berichtswesen arbeiten. Weder Wirtschaft noch Gesellschaft halten eine neue Runde von Verboten, Quarantänen, Strafen und Schließungen durch. Zumal diese nicht, wie im Frühjahr, ein paar Monate, sondern ein halbes Jahr bis April oder Mai andauern müssten. Derartige Maßnahmen sind a priori sinnlos, da sie sabotiert und aufgrund ihrer Nichteinhaltung wirkungslos werden.“

Hospodářské noviny (CZ) /

Prag kann sich nicht herausreden

Anders als noch im Frühjahr versagt die Regierung von Andrej Babiš vor der zweiten Welle völlig, urteilt Hospodářské noviny:

„Es sterben Menschen, die nicht sterben müssten. Nach der ersten Welle der Krise schwärmte Premier Andrej Babiš, er habe 'Tausende von Menschen' gerettet. Jetzt jedoch können wir mit Sicherheit sagen, dass er dafür gesorgt hat, dass Hunderte bis Tausende von Menschen sterben. Hätte er im Sommer nicht behauptet, Masken seien unnötig, müsste sich die Tschechische Republik nicht in einen Corona-Friedhof verwandeln, auf dem darüber entschieden wird, wer behandelt werden kann und wer nicht. Babiš kann sich hundertmal herauszureden versuchen, dass 'jeder Entspannung wollte'. Die Wahrheit ist, dass er die Entscheidung getroffen hat.“