US-Midterms: Bilanz und Lehren

Sechs Tage nach den US-amerikanischen Kongress-Wahlen stehen die endgültigen Ergebnisse in beiden Kammern noch nicht fest. Die Demokraten konnten nach einem wichtigen Sieg im Bundesstaat Nevada ihre Mehrheit im Senat halten. Europas Presse erkennt darin unterschiedliche Signale.

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Mediapart (FR) /

Trumps Kandidatur auf tönernen Füßen

Für Mediapart hat der Erfolg der Demokraten in Nevada zwei Konsequenzen:

„Die erste ist, dass die Demokraten weiterhin die Kontrolle über die Ernennung von Bundesrichtern, einschließlich der Richter am Obersten Gerichtshof, behalten. ... Die zweite besteht darin, dass Donald Trump in eine schwierige Lage gebracht wird. Der ehemalige Präsident hatte geplant, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2024 am 15. November bekannt zu geben. Es gab schon bessere Zeiten, um dies zu tun, zumal der Republikaner für einen Teil des Misserfolgs seiner Partei persönlich verantwortlich gemacht wird.“

El País (ES) /

Mäßigung ist das Gebot der Stunde

Der Essayist Yascha Mounk hofft in El País, dass die Polarisierung in den USA nun abnimmt:

„Es ist unklar, wer den Kongress kontrollieren wird, aber zwei Dinge sind klar: Mäßigung kann sich bei den Wahlen auszahlen, und Donald Trump ist zu einer Last für die Republikaner geworden. ... In praktisch allen Staaten, in denen mehrere republikanische Kandidaten zur Wahl standen, gewann der gemäßigtere Kandidat mehr Stimmen. ... Auch Demokraten, die sich vom progressiven Flügel der Partei entfernt haben, haben gut abgeschnitten. ... Ein Kandidat, der über die Parteibasis hinaus wirkt, hat 2024 die besten Chancen. Wenn beide Parteien diese Lektion lernen, könnten wir einer weniger polarisierten und gefährlichen Ära in der amerikanischen Politik entgegensehen.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Rote Karte für Trump, gelbe für Biden

Die Demokraten sind mitnichten aus dem Schneider, warnt Gazeta Wyborcza:

„In gewisser Weise hat die Figur Trump, die die republikanische Kampagne überschattete, den negativen Effekt von Biden ausgeglichen. Die Wahl, die ein Referendum über den unpopulären Präsidenten sein sollte, erwies sich zugleich als ein Referendum über seinen Vorgänger. Während Trump von den Wählern die rote Karte gezeigt wurde, bekam Biden nur die gelbe Karte.“

Kathimerini (GR) /

Kein Niedergang der USA

Chefredakteur Alexis Papachelas kommentiert in Kathimerini:

„Die Debatte darüber, ob Amerika noch die Kraft zur Wiedergeburt hat oder ob es den Weg eines tiefen und unausweichlichen Niedergangs einschlägt, wird schon seit Langem geführt. Viele dachten, dass der ultimative Test sein würde, ob Trump 2024 zum Präsidenten gewählt wird. Im Moment scheint das unwahrscheinlich. ... Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit einer sehr wichtigen europäischen Politikerin. Ich fragte sie: 'Was hält Sie nachts wach?' Sie antwortete: 'Trumps Wiederwahl'. Als ich nachfragte, warum, antwortete sie: 'Weil es das Ende des Westens sein wird'. Ich schätze, sie hat die Ergebnisse vom letzten Dienstag mit Erleichterung zur Kenntnis genommen.“

Sme (SK) /

Obama hätte Biden beneidet

Handlungsspielraum für Bidens weitere Amtszeit sieht Sme auch ohne Mehrheit der Demokraten im Repräsentantenhaus:

„Die Profile der republikanischen Gewinner sind keine Garantie für deren einheitliches Verhalten bei der Verabschiedung von Gesetzen. Im Gegenteil, wenn Biden schlau genug ist, kann er hier und da mit gemäßigten Nicht-Trump-Republikanern Stimmenmehrheiten schaffen. ... US-Analysten fügen hinzu, dass die Republikaner im Repräsentantenhaus möglicherweise Probleme haben werden, eine Mehrheit zu bilden, selbst bei Punkten, bei denen sie sich vorläufig nicht mit den Demokraten einigen können. So gesehen kann man sagen, dass Biden besser dasteht als Obama, dessen 'Midterms' gleich zweimal hintereinander dessen gesamte Agenda über den Haufen geworfen hatten.“

Trud (BG) /

Trump hat gezeigt, was er nicht leisten kann

Der große persönliche Einsatz von Trump im Wahlkampf könnte ihm jetzt als Niederlage angekreidet werden, vermutet Trud:

„Donald Trump hat eine äußerst aktive Kampagne geführt: 30 Kundgebungen in 17 Bundesstaaten, mehr als 60 Videokonferenz-Auftritte bei Wahlkampfveranstaltungen, 50 Spendenaktionen und mehr als 300 Millionen US-Dollar für die Kampagne, die durch seinen persönlichen Einsatz gesammelt wurden. ... Das Ausbleiben eines Erdrutschsiegs der Republikaner bei den Midterms kann nun eine Reihe von Stimmen innerhalb der Partei legitimieren, die glauben, dass eine Präsidentschaftskandidatur von Ron DeSantis im Jahr 2024 erfolgreicher wäre als die von Donald Trump.“

Expresso (PT) /

Republikaner mit DeSantis besser aufgestellt

Nach dem deutlichen Wahlsieg von Ron DeSantis in Florida könnten die Republikaner einen Weg finden, sich von Trump zu lösen, schreibt der Essayist Henrique Raposo in Expresso:

„Der Sieg von Ron DeSantis ist wichtig, weil er einen Hinweis darauf gibt, wie eine konservative Koalition jenseits von Trumps weißem Fanatismus aussehen könnte. Mit Trump sind die Republikaner die Partei der weißen Christen, oder besser gesagt der weißen Evangelikalen, geworden. Außerdem hat Trumps Grunzen, seine Grobheit, dazu geführt, dass die privilegierten weißen Vorstädte die Republikaner zugunsten von Biden aufgegeben haben. Und was macht Ron DeSantis jetzt? Er kann die Vorstädte und vor allem Minderheiten, insbesondere Latinos, anziehen.“

Postimees (EE) /

Die Vernunft hat sich durchgesetzt

Als wichtigstes Ergebnis sieht Postimees eine Schwächung von Trump:

„Das ist ein Zeichen für die Republikaner: Trumps politisches Gespür, das ihn einst zum Präsidenten gemacht hatte, ist abgestumpft. Oder die gesellschaftliche Stimmung passt nicht mehr zu Leuten wie ihm. ... Für Europa und die freie Welt ist die Hauptsache, dass die Unterstützung der USA für eine regelbasierte Weltordnung unerschütterlich bleibt. Diesbezüglich bringen die Midterms voraussichtlich keine großen Veränderungen. Das versteht auch der Kreml, dessen Sprecher Dmitri Peskow erklärte, dass die Beziehungen zwischen Russland und den USA schlecht bleiben.“

Gordonua.com (UA) /

Ein gutes Ergebnis für die Ukraine

Besser hätte es für Kyjiw nicht laufen können, meint der Abgeordnete der Poroschenko-Partei Europäische Solidarität, Alexej Honcharenko, in einem von Gordonua.com übernommenen Facebook-Post:

„Was die USA angeht: Das sind sehr gute Ergebnisse für die Ukraine. Sehr gute. Diejenigen, die die Hilfe für die Ukraine strikt ablehnten, haben es - größtenteils - weder in den Senat noch in das Repräsentantenhaus geschafft. Zwar ist ein paar von ihnen der Sieg gelungen, aber es ist eine unbedeutende Zahl und sie werden in keinem der beiden Häuser des Kongresses Unterstützung finden. Die Ukraine wird im Kongress von zwei Parteien unterstützt werden.“

Le Temps (CH) /

Seele der USA weiter in Gefahr

Das politische Klima in den Vereinigten Staaten bleibt verstörend, klagt Valérie de Graffenried, US-Korrespondentin von Le Temps:

„Diese Wahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass rund 300 Republikaner, die das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 anzweifeln, auf Landes- oder Gemeindeebene angetreten sind. Und rund 200 wurden gewählt. Dies ist die größte Gefahr für das Land. Egal, was passiert, der Trumpismus wird überleben. Verschwörungstheorien und Fake News werden weiter verbreitet, Vorwürfe 'geraubter Wahlen' häufen sich. Und der Verruf des Wahlprozesses trägt dazu bei, das Klima von Paranoia und Misstrauen zu verstärken. Ein fruchtbares Magma für den Ausbruch neuer politischer Gewalt. Nein, die Seele der USA ist nicht gerettet.“

Le Monde (FR) /

Auf Washington kann sich Europa nicht verlassen

Die von Trump unterstützten Positionen bleiben im Aufwind, glaubt auch Alexandra de Hoop Scheffer, Leiterin des Pariser Büros des Thinktanks German Marshall Fund, in Le Monde:

„Die jüngsten politischen Entscheidungen der USA deuten auf eine Rückkehr des Unilateralismus und Protektionismus hin, welche die Trump-Administration charakterisierten. Ist die Präsidentschaft Bidens in Wirklichkeit etwa nur ein Intermezzo in einer längeren Trumpisierungs-Sequenz der US-amerikanischen Politik? Europa hat aus den Trump-Jahren gelernt, dass sich die USA nicht immer mit den europäischen Partnern absprechen und Europa fähig sein und sich darauf vorbereiten muss, allein zu handeln.“