Afghanistan zwei Jahre nach Taliban-Machtübernahme

Vor zwei Jahren eroberten die Taliban nach dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan Kabul und übernahmen wieder die Macht im Land. Millionen Menschen leben in Armut. Besonders schlimm ist die Situation für Frauen und Mädchen. Sie dürfen unter anderem nicht mehr studieren oder höhere Schulen besuchen und nur in Begleitung reisen. Wie die Lage bessern?

Alle Zitate öffnen/schließen
Politiken (DK) /

Schwieriges Dilemma

Die Wahl zwischen einer Isolierung des Kabuler Regimes oder Verhandeln ist keine einfache, stellt Politiken fest:

„Es gibt keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma. Aber wir können mit der Feststellung beginnen, dass der Status quo eine Sackgasse ist. Vielleicht fühlt es sich besser an, den Taliban völlig den Rücken zu kehren, aber den Preis dafür zahlen die Falschen. Außerdem ist die Unterstützung humanitärer Opfer nicht gleichbedeutend mit der Legitimierung des Regimes, das ihr Leid verursacht hat. Wir müssen also pragmatisch handeln und versuchen, weniger dunkle Kräfte zu erreichen als diejenigen, die derzeit die Isolation nutzen, um in aller Ruhe die Zeit ins Mittelalter zurückzudrehen.“

Ilta-Sanomat (FI) /

Schlimmste Not durch Anerkennung lindern

Ilta-Sanomat kann sich eine Anerkennung des Taliban-Regimes vorstellen:

„Die Anerkennung der Taliban wäre eine bittere Pille. Doch die Aufnahme von Verhandlungen und die Freigabe eingefrorener Vermögenswerte des früheren afghanischen Regimes könnten die schlimmste Not lindern. Sie könnte sogar die Lage der Frauen und Mädchen verbessern, wenn die Taliban gleichzeitig zu Zugeständnissen bewegt werden könnten. … Die internationale Gemeinschaft könnte den Taliban die Anerkennung anbieten, aber nicht ohne Gegenleistung. Die Bedingungen müssen streng sein: Menschenrechte, Gleichberechtigung und gute Regierungsführung müssen dabei an erster Stelle stehen.“

La Croix (FR) /

Frankreich muss großzügige Asylpolitik fortsetzen

La Croix rechnet mit einer langwierigen Krise und lobt die Reaktion Frankreichs:

„Angesichts der extrem schwachen Opposition, kann dieser Zustand noch Jahre dauern. Solange dies der Fall ist, muss Frankreich seine großzügige Aufnahmepolitik gegenüber den afghanischen Ayslsuchenden fortsetzen. Der Flüchtlingsstatus ermöglicht es ihnen, die prekäre Lage hinter sich zu lassen und sich eine neue Existenz aufzubauen.“

Irish Examiner (IE) /

Immerhin gibt es jetzt ein bisschen Stabilität

Wirtschaftlich und sicherheitspolitisch hat sich die Lage in Afghanistan konsolidiert, analysiert Irish Examiner:

„Die Taliban sind im eigenen Land mit keinem nennenswerten Widerstand konfrontiert, der sie stürzen könnte. Sie haben interne Spaltungen vermieden, indem sie sich hinter ihren ideologisch strammen Führer stellten. Sie haben eine angeschlagene Wirtschaft am Leben gehalten, unter anderem durch Investitionsgespräche mit kapitalreichen Ländern in der Region, auch wenn die internationale Gemeinschaft die formelle Anerkennung verweigert. Durch das Vorgehen gegen bewaffnete Gruppen wie den Islamischen Staat haben sie die innere Sicherheitslage verbessert.“

La Repubblica (IT) /

Diktatur und Armut

Von der relativen Stabilität haben die Menschen in Afghanistan wenig, erläutert Alberto Cairo, Rotkreuz-Abgesandter in Afghanistan, in La Repubblica:

„Afghanistan ist eine theokratische Diktatur. ... Mullahs und Mawlawis können die islamischen Schriften frei auslegen, eine Diskussion ist nicht möglich, Schiiten und Ismaeliten werden als Ketzer bezeichnet und kaum geduldet. Die Volksgruppe der Paschtunen dominiert, Tadschiken, Hazaras und Usbeken sind ausgeschlossen. Die Taliban behaupten, die Unterstützung der gesamten Bevölkerung zu haben (was nicht stimmt). ... In den Berichten der Weltbank heißt es, die Inflation sei gesunken, die Währung stabil, die Steuereinnahmen stiegen. ... Mag sein. Aber es gab noch nie so viele arme Menschen.“

Le Monde (FR) /

Afghanische Frauen in sichere Länder holen

Parwana Paikan, Gesandte der afghanischen Botschaft in Frankreich, die die Taliban nicht anerkennt, fordert in Le Monde mehr Einsatz für Afghaninnen:

„Es wird Zeit, dass die Welt aufhört, die Situation in Afghanistan lediglich zu 'verfolgen'. ... Um positive Veränderungen in Afghanistan zu erreichen, müssen die Bemühungen koordiniert werden, diplomatische Kanäle genutzt, alle wirtschaftlichen und politischen Hebel in Bewegung gesetzt und abschreckende Sanktionen umgesetzt werden. Zudem ist es wichtig, die Ansiedlung und das Asyl afghanischer Frauen und Mädchen in den Ländern zu unterstützen, die ihnen Sicherheit und bessere Lebensmöglichkeiten bieten, und die Frauen gleichzeitig darauf vorzubereiten, eine wichtige Rolle bei der künftigen Entscheidungsfindung für ihr Land zu spielen.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

De facto sich selbst überlassen

Der Westen hat kaum noch Einfluss, stellt die Frankfurter Rundschau fest:

„Die Taliban erheben zwar Anspruch auf die vielen eingefrorenen Milliarden Dollar Staatsvermögen, doch sind sie dafür zu keinerlei Kompromissen bereit. Auch nicht zu Gesprächen. ... Die Biden-Administration engagiert sich jedenfalls kaum noch für Afghanistan. ... Deutschland und die anderen EU-Staaten sind im Grunde dem US-Beispiel gefolgt. Im Zusammenhang mit Afghanistan blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Schließlich saßen sie die ganze Zeit immer nur auf dem Beifahrersitz. Außerdem unterscheiden die Taliban nicht zwischen den USA und Europa. Deutschland und die anderen EU-Staaten überlassen also notgedrungen Afghanistan den Taliban.“

Libération (FR) /

Der Schlüssel liegt in der Wirtschaft

Europa muss eine unabhängige und wirtschaftsorientierte Strategie entwickeln, fordert der ehemalige EU-Botschafter Jean-François Cautain in Libération:

„Kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 muss die Biden-Regierung an ihrem Kurs festhalten, Sanktionen und humanitäre Hilfe miteinander zu verbinden. Europa unterliegt diesem Zwang nicht und muss eine eigene Strategie entwickeln. Der Schlüssel liegt darin, dabei zu helfen, die afghanische Wirtschaft wieder anzukurbeln. Nur die Wiederbelebung der Wirtschaft kann die aktuelle humanitäre Krise bewältigen und somit die Flucht nach Europa eindämmen.“