Wiederaufbau-Gipfel: Welche Einigung ist möglich?

Das am heutigen Freitag beginnende EU-Treffen in Brüssel soll endlich eine Einigung zum Corona-Wiederaufbaufonds bringen. Der Vorschlag der Kommission: 500 Milliarden Euro sollen als Zuschüsse vergeben werden, weitere 250 Milliarden als Kredite. Dies lehnen aber insbesondere die Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich ab. Kommentatoren sind sich über Chancen und Folgen möglicher Szenarien uneins.

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Iltalehti (FI) /

Unkalkulierbares Risiko

Der Wiederaufbaufonds könnte dramatische Auswirkungen auf die Entwicklung der EU haben, befürchtet Iltalehti:

„Auch wenn jetzt versichert wird, dass die Lösung eine einmalige Ausnahme darstellt, so ermöglicht sie doch viele tiefgreifende Entwicklungen. Die Gründung eines auf Finanzhilfen und gemeinschaftlicher Verantwortung basierenden Wiederaufbaufonds könnte den Charakter der EU dramatisch verändern. … Die EU-Mitgliedstaaten würden gemeinsam den größten Kredit ihrer Geschichte aufnehmen, aber um die Rückzahlung würden sich im Prinzip nur die EU-Nettozahler kümmern. Die politische Entwicklung kann nun eine unvorhersehbare Richtung einschlagen, sowohl in der EU als auch in vielen ihrer Mitgliedstaaten.“

Der Standard (AT) /

Scheitern würde Europäer vor den Kopf stoßen

Der Standard hat Verständnis für Kritik am Wiederaufbaufonds, aber nicht dafür, ihn ganz abzulehnen:

„Besonders hartnäckig im Schlechtreden tun sich dabei die 'sparsamen vier' Nettozahlerländer hervor, neben Österreich auch Schweden, Dänemark und die Niederlande. Ohne Zweifel sind viele ihrer Bedenken legitim, auch in der Sache gerechtfertigt. Und es muss auch wohlhabenden kleinen Staaten erlaubt sein, ihre eigenen Interessen mit Nachdruck zu verteidigen. Aber inzwischen nimmt das Ganze den Charakter von Obstruktion an, wenn man nicht aufpasst. Scheitern die Regierungschefs wieder am Budget, wird es kritisch. Das Vertrauen in Europa nähme weiter ab.“

La Repubblica (IT) /

Nichts für die eigene Glaubwürdigkeit getan

Italien hat sich selbst einen Knüppel zwischen die Beine geworfen, schimpft Brüssel-Korrespondet Andrea Bonanni in La Repubblica:

„Die dramatischen Bilder der Särge, die in Bergamo auf Militärlastwagen verladen wurden, hatten Europa bewegt und in Frankreich und Deutschland eine Solidaritätsbewegung gegenüber unserem Land ausgelöst. Doch die Regierung und die politische Klasse taten nichts, um unsere Verhandlungsposition wenn schon nicht zu stärken, so doch zumindest durch Kohärenz und Glaubwürdigkeit zu stützen. ... Ein Land, das um Geld bittet, oder besser gesagt, Geld verlangt, ohne im Gegenzug eine konkrete Verpflichtung anzubieten, legitimiert die schlimmsten Verdächtigungen bezüglich seiner Absichten. ... Wenn wir nun aus dem Brüsseler Gipfel mit einer Unmenge an Auflagen hervorgehen werden, können wir uns nur damit trösten, dass wir selbst schuld daran sind.“

Rzeczpospolita (PL) /

Ein Zwei-Billionen-Zuckerbrot

Wenn die EU diese Chance zur Einforderung der Rechtsstaatlichkeit nicht wahrnimmt, ist sie am Ende, meint Rzeczpospolita:

„Riesige Geldsummen im Spiel, wenig Zeit zu verlieren - es hat wahrscheinlich nie einen besseren Zeitpunkt gegeben, um Polen und Ungarn zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu zwingen als den Gipfel, der diesen Freitag in Brüssel beginnen wird. ... Immerhin geht der Kampf um die Rechtsstaatlichkeit ins fünfte Jahr, und wenn sich ihre Verteidiger jetzt nicht behaupten, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit vollständig. Wenn die Verwendung eines Zuckerbrots im Wert von insgesamt fast zwei Billionen Euro keine Zugeständnisse aus Warschau und Budapest erzwingt, was wird sie dann zwingen? Weitere Einsprüche des Europäischen Parlaments, Berichte der Europäischen Kommission, Schlussfolgerungen aus EU-Ratssitzungen?“

De Telegraaf (NL) /

Alle wissen um Italiens unhaltbare Verschuldung

Im Kern dreht sich der Streit darum, was sich Italien in der Eurogruppe erlauben kann, analysiert der Wirtschaftsexperte von De Telegraaf, Martin Visser:

„Beide Lager geben eigentlich an, dass für sie die italienische Position in der Eurogruppe nicht haltbar ist. Dass sie wenig Vertrauen haben in die wirtschaftliche Zukunft des Landes. ... Mark Rutte fordert Bedingungen und will Kredite, um sicherzugehen, dass sich jetzt wirklich etwas an der Wirtschaftspolitik Italiens verändert. Auf der anderen Seite sagen seine Gegner, dass mehr Kredite für das Land untragbar sind. Wird damit nicht die Unhaltbarkeit der italienischen Verschuldung anerkannt? Und warum die Angst vor Bedingungen? Die europäische Kommission prüft die Wirtschaftspolitik von Ländern doch auch immer? Oder kommt hier die Katze aus dem Sack und gibt man zu, dass Italien in den letzten Jahren unzureichend gemaßregelt wurde?“

Sydsvenskan (SE) /

Schweden wird nachgeben

Stockholm wird letztlich von seiner Forderung abrücken, die Hilfsgelder nur in Form von Krediten zu vergeben, glaubt Sydsvenskan:

„Schwedens Widerstandsstrategie ist teils Verhandlungstaktik und teils Rhetorik für das heimische Publikum. ... Nein zu sagen kann negative Folgen haben. Soll Schweden, mit seiner im Ausland höchst umstrittenen Corona-Strategie, nun ein Rettungspaket blockieren, das entscheidend ist dafür, die Union aus ihrer bisher größten Wirtschaftskrise zu führen? Will [Premier] Stefan Löfven diese Verantwortung auf sich nehmen? Vermutlich nicht. Der Preis könnte allzu hoch werden und Schweden in einigen europäischen Hauptstädten zum Paria werden lassen. Vermutlich lässt sich Löfven letztlich widerwillig überreden.“

Politiken (DK) /

Die soziale Kernschmelze stoppen

Für die Zukunft der EU ist dieser Gipfel von enormer Bedeutung, erklärt Politiken:

„Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit sind explodiert. Und die Extremisten stehen schon bereit, wenn die aktuellen Machthaber die Aufgabe nicht lösen können, die ihnen die Geschichte gestellt hat. … Wir sprechen von Corona. Und wir sprechen von einer sozialen Kernschmelze, die in vielen Städten Europas begonnen hat, die wir sonst mit relativem Wohlstand verbinden. … Nach der Finanzkrise 2008 ging es darum, einen robusten Finanzsektor herzustellen, 2020 geht es um soziale Robustheit - so formulierte es die neue IWF-Chefin, Kristalina Georgiewa. Der EU-Gipfel am Wochenende wird uns zeigen, ob unsere Politiker die Gelegenheit beim Schopfe packen.“

Népszava (HU) /

Orbán erpresst Europa ganz unverhohlen

Dass Ungarns Premier sein Veto einlegen will, wenn Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds an rechtsstaatliche Kriterien geknüpft werden, findet Népszava selbst für Orbáns Verhältnisse besonders abgefeimt:

„Wie ernst diese Bedrohung für Orbáns illiberalen Staat wäre, zeigt auch, dass der Fidesz-Chef dieses Mal auf seinen gewohnten Pfauentanz in Brüssel verzichtet hat. Er zeigte das Gesicht, das man von ihm zu Hause gewohnt ist: das eines politischen Banditen, der nicht einmal von der gemeinsten Erpressung zurückschreckt. Die EU befindet sich in einer Zwangslage: zur Heilung der von der Pandemie verursachten wirtschaftlichen Erschütterung sollte sie den Unionshaushaltsplan dringend verabschieden. ... In Brüssel hat man die Botschaft offenbar zur Kenntnis genommen. EU-Ratspräsident Charles Michel scheint bereit zu sein, die Rechtsstaatlichkeitsbedingung der Kommission aufzuweichen.“

La Repubblica (IT) /

Nur ein vermeintliches Entgegenkommen

Ein Kompromiss könnte mit Nachteilen für Italien verbunden sein, merkt Wirtschaftsjournalist Carlo Bastasin in La Repubblica an:

„Die 'Sparsamen' haben die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich die italienische Forderung nach einer sofortigen Verwendung der Gelder in den Jahren 2021 und 2022 zu eigen gemacht. Sie wollen sicherstellen, dass der Wiederaufbaufonds nur mit der Pandemie-Krise in Verbindung steht und nicht zu einem ständigen Instrument wird, das den europäischen Institutionen zur Verfügung steht. Italien, das wirtschaftlich schlechter dasteht als andere Länder, bräuchte aber genau das Gegenteil: dass das europäische Engagement so lange anhält, bis Italien den Wachstumsrückstand aufgeholt hat – was bis zu fünf Jahre beanspruchen könnte.“

El País (ES) /

Von wegen Musterschüler

Ausgerechnet die Niederlande spielen sich nun als Hüter der EU-Finanzen auf, ärgert sich El País:

„Es ist noch nachvollziehbar, dass man für den britischen Nationalismus in die Bresche springen will, der früher die europäistischen Vorstöße ausbremste. Und dass man sich nach all den Jahren, in denen man sich hinter London verschanzt hat, nun traurigerweise dazu berufen fühlt, als neues Hindernis zu dienen - auch wenn dies nicht zu einer offenen und kosmopolitischen Gesellschaft passt. Aber es muss auch gesagt werden, dass den Niederlanden die moralische Berechtigung zu ihrem Verhalten fehlt. Die Niederlande befördern Steuerhinterziehung, ihre Gesetze ermöglichen es, enorme Gewinne in Steuerparadiese umzuleiten. Und dies diskreditiert jeglichen Diskurs über Disziplin und Ernsthaftigkeit in Sachen Finanzen.“