EU-Tauziehen um Corona-Hilfen

Am heutigen Gründonnerstag konferieren die Finanzminister der Eurogruppe erneut, um sich auf ein umfangreiches Corona-Rettungspaket zu einigen. Besonders umstritten bleibt, ob das Paket neben gelockerten Kreditbedingungen, einem Garantiefonds und einem Kurzarbeiterprogramm auch sogenannte Corona-Bonds enthalten soll. Die Presse debattiert, wie die Krisenstrategie der EU aussehen sollte - auch über Geldfragen hinaus.

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Capital (GR) /

Ein New Deal ist nötig

Die EU muss jetzt vernünftig handeln und an die nächsten Generationen denken, schreibt das Webportal Capital:

„Wenn Länder und Volkswirtschaften von völliger Zerstörung bedroht sind, können wir nicht über Sparmemoranden, Finanzierungsbedingungen usw. sprechen. Das Modell muss sich ändern. Die Richtlinien müssen sich ändern. Ein 'New Deal' ist nötig. Europa darf am nächsten Tag nicht versklavt sein. Weil es versklavt sein wird, wenn ganze Generationen aufgefordert werden, für die heutige Finanzierung zu bezahlen. Es geht darum, die nächste Generation nicht bluten zu lassen. Sie soll im Wohlstand leben, und dies kann nur durch einen Wachstumsschock sichergestellt werden.“

La Repubblica (IT) /

Italien muss Glaubwürdigkeit beweisen

Das beste Argument für gemeinsame Anleihen besteht nicht darin, dass sie Italien, sondern dass sie allen Staaten helfen, stellt Finanzexperte Alessandro Penati in La Repubblica klar:

„Italien fordert zu Recht mit Nachdruck gemeinsame Anleihen mit langfristiger Vergemeinschaftung der Schulden, denn wenn die Schulden leichter zu tragen sind, würde das Risiko einer Krise verringert, was auch Deutschland zugute käme. Im Gegenzug muss Italien jedoch den konkreten Beweis erbringen, dass sein Willen, die übermäßige Verschuldung abzubauen, glaubwürdig ist. Ein Beweis, den das Land seit mindestens zehn Jahren nicht geliefert hat. Und es sollte Finanzhilfen nicht im Namen der europäischen Solidarität aushandeln, ein Konzept, das heute abstrakter ist als je zuvor, sondern im Namen der wirtschaftlichen Interessen aller.“

Helsingin Sanomat (FI) /

Es ist auch eine innenpolitische Frage

Der Widerstand gegen Eurobonds liegt auch daran, dass sich die Solidarität mit anderen Ländern hier nicht so leicht tarnen lässt, merkt Helsingin Sanomat an:

„Der Widerstand der nördlichen Länder ist in einigen Punkten nicht konsequent. Schon jetzt beinhalten viele Lösungen zur Entschärfung von Krisen eine Ausweitung der gemeinschaftlichen Haftung. Zum Beispiel würde Finnlands Haftung durch den von der Kommission entwickelten 100-Milliarden-Euro-Beschäftigungsfonds zunehmen, denn er verlangt von Finnland, für Kredite zu bürgen, die der Fonds anbietet. Dagegen gibt es jedoch weniger Widerstand als gegen die Eurobonds, denn in den innenpolitischen Debatten der Mitgliedsstaaten lassen sich diese Anleihen schlechter verbergen als andere Lösungen, die die gemeinschaftliche Haftung genauso ausweiten.“

La Repubblica (IT) /

Kein Kompromiss in Sicht

La Repubblica bezweifelt stark, dass es am Donnerstag zu einer Einigung kommt:

„Über dem Verhandlungstisch schwebt das Veto. Italien, Frankreich und ein Dutzend Verbündete blockieren das Schlussdokument der Finanzminister. Der Haken bleiben die Euro-Bonds. Rom und Paris geben sich mit der Schaffung eines neuen Konjunkturfonds nicht zufrieden. Sie wollen eine ausdrückliche Garantie für die Ausgabe gemeinsamer europäischer Anleihen. Also wird weiter verhandelt. Doch zeigt sich die EU so wackelig, dass Giuseppe Conte und Emmanuel Macron sogar von der Präsentation eines 'Recovery Plan' und der durch Ursula von der Leyen angekündigten EU-Gesundheits-Exit-Strategie abgeraten haben. Die Kommissionspräsidentin sagte denn auch ihre Pressekonferenz dazu ab.“

Politiken (DK) /

Solidarität bedeutet jetzt Euro-Bonds

Die EU muss den am schwersten betroffenen Ländern endlich effektiv helfen, fordert Politiken:

„Die EU hat keine nennenswerten Kompetenzen im Gesundheitsbereich, mögen manche einwenden. Das stimmt, aber die Corona-Krise ist mindestens ebenso sehr eine Wirtschafts- wie eine Gesundheitskrise. Und in Sachen Wirtschaft hat die EU viele Stärken und Möglichkeiten. ... Deutschland und die Niederlande lehnen Euro-Bonds kategorisch ab. Nicht ohne Grund, befürchten sie doch, die Rechnung für die leichtfertigere Wirtschaftspolitik der Südeuropäer zahlen zu müssen. ... Aber in einer Stunde wie dieser muss die EU helfen und ihren Wert beweisen. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire formulierte es auf einem EU-Gipfel kürzlich so: 'Die grundlegende Frage ist letztlich einfach: Stehen wir zusammen oder nicht?' Diese Frage sollte sich selbst beantworten.“

Krytyka Polityczna (PL) /

Brecht diese veralteten Regeln!

Jetzt bedeutet Integrität, Vorschriften zu ignorieren, fordert der Vizechef der Open Society Foundations, Alexander Soros, in Krytyka Polityczna:

„Die Europäische Union ist gegenüber ihren Mitgliedstaaten und ihren Einwohnern verpflichtet, alle verfügbaren Finanzinstrumente zu nutzen oder neue zu schaffen, um sicherzustellen, dass sowohl Italien als auch die Integrität der Gemeinschaft die Krise überleben und sich danach von ihr erholen. Dies erfordert, dass die Union aufhört, sich wie bisher auf ein veraltetes Regierungsmodell zu stützen, das auf dem Fehlen gemeinsamer finanzieller Ressourcen in der Währungsunion beruht. Wenn Italien fällt, wird der Preis für die europäische Wirtschaft - ja, für das gesamte europäische Projekt - viel höher sein als der Preis für die Verletzung der einen oder anderen Haushaltsregel in einer Zeit ernsthafter Gefahren.“

La Libre Belgique (BE) /

Europäische Identität das entscheidende Puzzleteil

Der ehemalige ungarische Justizminister im Kabinett Orbán (2014-2019) und heutige EU-Abgeordnete László Trócsányi schreibt in La Libre Belgique, Europa könne nun endlich zu sich finden:

„Europa hat sich noch nie so solidarisch angefühlt wie jetzt. ... Das Management dieser Gesundheitskrise mag nicht perfekt sein, aber die Nationen, die regionalen (wie die EU) und die globalen Akteure (wie die WHO) arbeiten zusammen. ... Das ist eine ganz andere Herangehensweise als in China, im Iran, den USA. ... Um ihre Schwächen zu bekämpfen, muss die EU die 'europäische Identität', also eine Identität, mit der sich alle Bürger Europas identifizieren können, hervorheben. Das Bewerben einer solchen Identität und 'Lebensweise' ist essenziell, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen europäischen Familie zu stärken und die Schwierigkeiten erfolgreich zu überwinden.“

Corriere della Sera (IT) /

Nicht nur auf die Superwaffe setzen

Mit der Fixierung auf Eurobonds ist Italien schlecht beraten, warnt Ökonomin Lucrezia Reichlin in Corriere della Sera:

„Italien begeht einen Fehler, wenn es sich von vornherein für eine klare Ablehnung des Instruments des ESM [Europäischen Stabilitätsmechanismus] ausspricht und alles auf Corona-Bonds setzt. Der Grund liegt auf der Hand: Wir müssen jetzt mehrere Instrumente diskutieren und nicht nur eine Superwaffe im Auge behalten. Denn die Ziele, die Europa zur Bekämpfung dieser Krise verfolgen muss, sind unterschiedlich, und von daher müssen auch die Mittel und Wege vielfältig sein.“

Deutschlandfunk (DE) /

Ein Corona-Marshallplan muss her

Großzügigkeit und ein guter Name für das Hilfsprogramm sind jetzt gefragt, meint der Deutschlandfunk:

„[D]ie Hilfen des ESM müssten weitgehend ohne die sonst geltenden Auflagen fließen. Der Weg zum Geld muss erleichtert und verkürzt werden, denn Italien oder Spanien sind nicht durch fehlerhaftes Wirtschaften so schwer in die Coronakrise geraten, sondern durch ein Virus. Deutschland darf aus der Krise nicht als europäischer Buchhalter herausgehen: ein gut gebauter, mit hunderten Milliarden bestückter Hilfsfonds, der Finanzpolitik nicht auf Jahre festlegt, sondern sehr großzügig alle Hilfe in der aktuellen Not bereitstellt, ist das Gebot der Stunde. Was zur Technokratie neigende Deutsche oft vergessen: Diese großangelegte Hilfsaktion müsste einen Namen haben, der bisherige Emotionen berücksichtigt und neue freisetzen kann. Warum nicht: 'Corona-Marshallplan'?“

Kathimerini (GR) /

Gründungsprinzipien stehen infrage

Die EU muss die Austeritätsgedanken der vorhergegangen Krise ablegen, will sie nicht die weitere Europafeindlichkeit schüren, stellt Kathimerini klar:

„Die Idee eines gemeinsamen Kreditinstruments, mit dem Europa nach den verheerenden Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie wieder auf die Beine kommen und die Wirtschaft seiner Mitgliedstaaten neu starten kann, ist äußerst wichtig. Wenn die Diskussion über die Kreditlinien des Europäischen Stabilitätsmechanismus jedoch im Geiste moralischer Empörung geführt wird und von der Stimmung der vorherigen Finanzkrise geprägt ist, wird dies allein dabei helfen, die zerstörerischen Kräfte der Euroskepsis zu schüren. ... Europa braucht mehr als Liquidität; es muss beweisen, dass seine Gründungsprinzipien diese schwere Probe überleben können.“

Der Nordschleswiger (DK) /

Es gibt sehr wohl Solidarität

Es lohnt sich, in der Diskussion genauer hinzusehen, findet Der Nordschleswiger:

„Denn zur Wahrheit gehört auch, dass es trotz allem noch europäische Solidarität gibt. Länder nehmen Patienten aus anderen Ländern auf, es werden Materialien gestiftet, gemeinsame Bestellungen aufgegeben, es wurde der Im- und Export von Lebensmitteln und medizinischen Gütern sichergestellt ... gemeinsam wurde Geld für die Forschung an Corona-Impfstoffen abgesetzt, es wurden Ausnahmeregelungen für die Wirtschaftsförderung bzw. -subventionierung erlassen, die Mitglieder dürfen mehr Schulden machen als sonst, es wurde ein riesiges Rettungspaket ... geschnürt, und der Stabilitätsmechanismus, der aus der Finanzkrise hervorging, soll auch genutzt werden. Vielleicht ist die EU gerade nicht die lauteste Stimme in der Krise. Aber sie funktioniert in dem Rahmen, den die nationalen Regierungen zulassen, einigermaßen effektiv.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Nicht auf Coronabonds versteifen

Auch El Periódico de Catalunya warnt vor vorschnellen Urteilen:

„Europäische Solidarität ja oder nein? Falsche Debatte. Die Unterstützung ist da, auch wenn das Deutsche, Spanier oder Italiener nicht wahrnehmen. Es ist Aufgabe der Politiker, insbesondere in Spanien und Italien, den Bürgern zu erklären, wie die Hilfen organisiert werden. Die Debatte auf Coronabonds zu reduzieren, ist nicht nur ungerecht gegenüber den Mitteleuropäern, die die Risiken über die EZB teilen, sondern schürt auch antieuropäische Gefühle. ... Europa ist vielleicht nicht so, wie wir es uns wünschen. Aber wir stehen der Epidemie auch nicht alleine gegenüber. Die Hilfe der EZB in der Krise 2010 bis 2012 war unermesslich und sie wird es auch in der aktuellen Krise und noch kommenden sein.“

Portal Plus (SI) /

Die alte EU kommt nicht mehr zurück

Nach dieser Krise wird die EU eine andere sein, glaubt Dejan Steinbuch auf dem Onlineportal Portal Plus:

„Die Coronavirus-Pandemie hat die Grundlagen der Europäischen Union so erschüttert, dass ich nicht glaube, dass es je wieder so schön sein wird wie früher, wenn das Virus einmal unter Kontrolle ist. Vielleicht wird die EU einige Freiheiten beibehalten, ich zweifele auch nicht an der Weiterführung der vollständigen Liberalisierung der Wirtschaft und der Zölle, aber politisch hat eine solche Länderunion ohne grundlegende Veränderung keine Chance. Vielleicht haben das die Briten auf ihre unerklärliche Weise bereits vor Jahren geahnt, als sie Brüssel Lebewohl gesagt haben. Die aktuelle EU-Kommission erweckt nicht die kleinste Hoffnung, dass nach dem Ende des Coronakriegs wieder alles beim Alten sein wird.“

De Standaard (BE) /

Jeder wird leiden müssen

Das Pochen vieler EU-Staaten auf ihr nationales Eigeninteresse wird sich bald als Holzweg herausstellen, meint De Standaard:

„Europa war schön, als wir noch Ski fahren konnten. Aber jetzt, da unser Leben in Gefahr ist, müssen die Grenzen sofort geschlossen werden. Nationales Eigeninteresse ist die einzige noch legitime Motivation. Bei Schutzmasken, Bank-Dividenden und europäischen Milliarden. ... Wir werden sehr schnell dahinter kommen, dass die kleine nationale Bühne hoffnungslos unzureichend ist. Die EU wird eine neue Chance bekommen. Jeder wird leiden müssen. Auch die Niederländer. Corona wird in eine wirtschaftliche und finanzielle Not der Staaten ausarten, in der die EU unverzichtbar ist. “

The Spectator (GB) /

Der Geist ist aus der Flasche

Offene Grenzen, der Stabilitätspakt und die Bewegungsfreiheit - dass diese Prinzipien nun außer Kraft gesetzt sind, offenbart die existentielle Krise der EU, beobachtet The Spectator:

„Ein weiteres Beispiel für den durch die Epidemie verursachten Schaden ist der Zusammenbruch der europäischen Solidarität. Hierfür gab es ohnehin nie ein gelungenes Rezept und die Solidarität in der Krise folgt nationalstaatlichen Reflexen. ... Europas Schwäche in der Krise wird einige Parteien stärken. Matteo Salvini in Italien und Marine Le Pen in Frankreich verurteilten Brüssel vor einigen Wochen für die Weigerung, das Schengen-Abkommen aufzuheben um so die Verbreitung des Virus zu stoppen. ... Die erzwungene Aufhebung der Grundprinzipien der EU ist ein Geschenk für sie. Brüssel wird Schwierigkeiten haben, den Geist, der aus der Flasche gelassen wurde, wieder hineinzubekommen.“

Lietuvos rytas (LT) /

Traum von Vereinigten Staaten Europas dahin

Die Pandemie hat gezeigt, dass Europa nicht einig sein will, schreibt Mečys Laurinkus in Lietuvos rytas:

„Es wird immer klarer, dass das schöne Gerede über gemeinsame Werte und Solidarität konkreten Interessen und Pragmatismus oder einfach Egoismus weicht, sobald man auf eine wahre Bedrohung trifft. Ich prognostiziere, dass selbst wenn der Glaube an die gemeinsamen Werte nicht verschwindet, vieles auf den harten Boden der Tatsachen zurückfallen wird. ... Die Vereinigten Staaten Europas werden wohl nur ein literarischer Traum von Churchill bleiben. Sein Land hat diese Idee schließlich als erstes abgelehnt. Und wenn die sogenannte harte EU-Integration doch stattfinden sollte, wie würde sie in diesen Zeiten aussehen? Wie Macrons Ausgangssperre?“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Die Enttäuschung wird groß sein

Tygodnik Powszechny glaubt hingegen nicht, dass das europäische Projekt an der Pandemie scheitern wird:

„Wenn die aktuelle Krise eine Schlussfolgerung über die Zukunft der EU zulässt, dann diese: Wir brauchen ein neues politisches Abkommen in Europa, das klar definiert, was wir von den EU-Institutionen und von den nationalen Institutionen erwarten können. Wenn der erwartete wirtschaftliche Zusammenbruch kommt, werden wir erneut enttäuscht sein, dass unsere Erzählung von der EU nicht mit der EU übereinstimmt, die tatsächlich existiert. Unser Gefühl der Dissonanz wird aber immer kleiner sein als das, welches die Chinesen oder die Russen beim Anhören ihrer nationalen Narrative verspüren.“